Hinterhäuser selbst hat zuletzt von einem „fragwürdigen moralischen Hochsitz“ gesprochen, von dem aus über Currentzis geurteilt wird. Ist nicht Moral gerade auch im Kunstbereich eine wichtige Komponente?
Natürlich ist Moral wichtig. Aber auch hier tut es unserem Betrieb nicht gut, wenn man die Dinge miteinander vermischt. Ich habe zum Beispiel letztes Jahr Anna Netrebko und Valery Gergiev wegen ihrer Arbeitsmoral kritisiert – und das wurde jetzt mit der Debatte über den Umgang mit russischen Künstlern vermischt.
Hinterhäuser sagt, dass Auftrittsverbote eine Gesellschaft generell diskreditieren. Sehen Sie das auch so?
Ja, und auch da wünsche ich mir in der öffentlichen Debatte mehr Differenziertheit. Es ist natürlich absurd, wenn etwa ein junger Pianist, wie ich zuletzt gelesen habe, ein Engagement verliert, nur weil er einen russischen Pass hat. Auftrittsverbote können sehr schnell in Richtung „Zensur“ gehen. Zensur ist ein Mittel eines nicht-demokratischen Systems. Es wäre wünschenswert, wenn hier – ähnlich wie in der #MeToo-Debatte – demokratisch legitimierte Richtlinien als moralischer Kompass für Entscheidungsfindungen dienen könnten.
Aber um so jemanden geht es ja nicht, bleiben wir konkret bei Gergiev: Würden Sie ihn im Moment zu einem Dirigat einladen?
Nein, ihn nicht.
Die Salzburger Festspiele wurden 1920 als Friedensprojekt gegründet. Es heißt immer, sie hätten deshalb eine besondere Verantwortung, gerade in Kriegszeiten.
Ich sehe das Friedensprojekt auch so, dass Kunst es schaffen kann, Menschen zusammenzuführen. Nicht nur bei den Besuchern, sondern auch innerhalb eines Ensembles. Das sehen wir zum Beispiel gerade bei den Proben zu Puccinis „Il trittico“, wo ukrainische und russische Sänger wunderbar zusammenarbeiten.
Warum passt gerade dieses Puccini-Werk zu den Festspielen 2022?
Weil es um zutiefst menschliche Probleme geht. Bei „Gianni Schicchi“ um Animositäten innerhalb der eigenen Verwandtschaft und um Erbstreitigkeiten, bei „Il tabarro“ um Eifersucht, Enttäuschung und Mord, bei „Suor Angelica“ um Standesdünkel und das Ausgestoßenwerden aus der Familie. Der Tod spielt in allen drei Opern eine große Rolle, von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet. Und die persönlichen Schicksale sind hier der Spiegel von etwas Größerem.
Unter Intendant Gérard Mortier war Puccini in Salzburg verpönt. War das falsch?
Puccini wird oft in die klassische Schmuddelecke gestellt, weil er Schlager, Hits, die es in die Popkultur geschafft haben, komponieren konnte. Ein Hit in der Klassik – da rümpfen manche die Nase. Aber ich finde ihn genial, da ist jede Note durchdacht, er war ein Komponist auf der Höhe seiner Zeit. Und wenn man es so ernsthaft macht wie Regisseur Christof Loy, wie die Sängerin Asmik Grigorian und wie wir mit den Wiener Philharmonikern, dann passt das ideal nach Salzburg. Ich sage jetzt schon meinen Freunden und Bekannten: Es gibt Taschentuchalarm. Das ist so berührend, dass wir alle schon bei den Proben feuchte Augen kriegen.
Wie passen die Salzburger Festspiele grundsätzlich in unsere Zeit, in der es eine derart hohe Inflation gibt und sich immer mehr Menschen immer weniger leisten können?
Es wäre niemandem geholfen, die Festspiele abzusagen. Sie sind ja auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region. Gerade in schwierigen Zeiten benötigen wir Kontinuität und Orte der künstlerischen und intellektuellen Auseinandersetzung. Jede Gesellschaft braucht auch eine geistige Elite – leider wird dieser Begriff bei uns oft absichtlich falsch verstanden. Ich tue mir schwer damit, dass der Elite-Gedanke etwa im Sport breit akzeptiert ist, während sich Spitzenleistungen in der Kultur immer wieder aufs Neue dafür legitimieren müssen.
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