Weiter leben - Von Ruth Klüger
Ruth Klüger, die am 30. Oktober ihren 81. Geburtstag feiert, ist eine Überlebende. Erst spät – unmittelbarer Auslöser war ein Fahrradunfall – entschloss sich die Literaturwissenschaftlerin "weiter leben" zu schreiben. Das Buch erschien 1992. Klüger strukturiert ihre Autobiografie in vier Abschnitte: "Wien" beschreibt ihre Kindheit. In Wien wurde sie 1931 geboren, hier erlebte sie nach Hitlers Einmarsch in Österreich den aufkommenden Antisemitismus. Bereits in dieser Zeit lernt sie, ihren persönlichen Schutzpanzer anzulegen: Das Mädchen Ruth sagt Gedichte auf, selbst wenn sie von Familie und Klassenkameradinnen dafür gescholten wird. Literatur und vor allem Lyrik werden sie ihr Leben lang begleiten: In "weiter leben" sind immer wieder Gedichtzeilen der Autorin eingebunden. "Wien ist Weltstadt", schreibt Klüger, "von Wien hat jeder sein Bild. Mir ist die Stadt weder fremd noch vertraut, was wiederum umgekehrt bedeutet, dass sie mir beides ist, also heimatlich unheimlich."
Der zweite Teil des Buches ist mit "die Lager" überschrieben. Ruth Klüger war elf Jahre alt, als sie 1942 zusammen mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde – der Vater war geflohen und ermordet worden. Drei Jahre lang wird Klüger erst in Theresienstadt, dann in Auschwitz und Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, gefangen gehalten. Auch in dieser Hölle nutzt sie Literatur, erträgt die stundenlangen Appelle durch das Memorieren von Balladen und schreibt Gedichte. 1945 gelingt ihr, zusammen mit ihrer Mutter, die Flucht während eines Todesmarschs.
Der dritte Teil des Buches, "Deutschland", beschreibt diese Flucht durch aufgegebene Dörfer, leere Scheunen und entlang misstrauischer Flüchtlinge. Sie schlagen sich durch, hetzen durch Bayern. Nach 1945 macht Ruth Klüger mit 16 Jahren das Notabitur; sie beginnt ein Literaturstudium in Regensburg, wo sie auch den im Text als "Christoph" bezeichneten Studienkollegen Martin Walser kennenlernt. "New York" nennt die Autorin schließlich den vierten und letzten Teil ihrer Autobiografie: Dorthin emigrierte sie 1947, wiederum zusammen mit ihrer Mutter; hier studierte sie an der Universität Berkeley Germanistik und Bibliothekswissenschaften. Wien, Deutschland und New York – dies sind die kartografischen Eckpunkte des Buches, das aber nicht nur chronologisch von Kindheit und Jugend erzählt. Klüger führt im Gegenteil zeitliche Sprünge und Brüche ein, berichtet in Vorschau von ihrem Leben. Sie erinnert sich, bleibt aber in ihrer Schreibgegenwart verankert. Die Autobiografie lebt von diesem Wechsel, ergreift durch die Distanz zwischen Erlebtem und Reflektiertem.
"weiter leben" hat etwas von einer Offenbarung. Wann wurde derart unprätentiös vom schrecklichsten Abschnitt unserer Geschichte erzählt? Neid, Hass, Größenwahn – von all dem erzählt Klüger mit einer fast weise zu nennenden Klarheit, stets kritisch, immer wieder humorvoll, nie verbittert. Da fehlt jedes Jammern und jedes Opfergehabe, da werden Leid und Trauer umgemünzt in hell strahlende Scheinwerfer-Spots: Schaut her. Dieser Blick zurück, dieses "weiter leben" einer Frau bis ins Heute hinein, ist ein ganz besonderer – nicht zuletzt wegen der spezifisch feministischen Sicht der Autorin. Hier geht es um die Frau damals und jetzt, hier wird kein "Leser" angeredet, sondern stets eine "Leserin". Und keine wird sich der Sprache und den Gedanken Ruth Klügers entziehen können.
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