Was man einst zum Speiben fand: Die Kunst des Hermann Nitsch
Hätte man sich je vorstellen können, dass der kugelrunde Gesamtkunstwerker Hermann Nitsch, nicht nur Dionysos, dem Gott des Weines und des Rausches, huldigend, 80 werden könnte? Noch vor ein paar Jahren musste man sich ernsthafte Sorgen machen. Denn der alte Meister fiel selbst bei den von ihm geleiteten Malaktionen in Morpheus Arme.
Gut, der Nitsch wird erst in drei Monaten, am 29. August, 80 Jahre alt. Aber alle Zweifel sind verflogen: Bei der Eröffnung der Ausstellung „Leben und Werk“ samt dem Gütesiegel „80 Jahre Nitsch“ in Mistelbach präsentierte sich der stets freundliche, immerzu schelmische Rauschebart in Geberlaune.
Und an ein Ende ist nicht zu denken: Das letzte Kapitel der von Michael Karrer, dem Leiter des Nitsch-Museums, mit unglaublicher Akribie zusammengestellten Schau behandelt die Zukunft. Als seien sie bereits Faktum, werden diverse Einzelausstellungen in New York, London und Paris aufgelistet, zudem eine Retrospektive in der Albertina und als Höhepunkt 2020 eine Neuinszenierung des „6-Tage-Spiels“, das erstmals 1998 realisiert wurde.
Orgien Mysterien
Die Partitur ist längst fertiggestellt. Denn eigentlich hätte das zweite „6-Tage-Spiel“ schon vor ein paar Jahren im Innenhof von Schloss Prinzendorf und den anderen Schauplätzen – vom Weinkeller über den Garten und die Stallungen bis zur Kapelle – stattfinden sollen. Doch 2013 erbeuteten Diebe einen Millionenbetrag, und Ehefrau Rita Nitsch bekam es, weil das Geld zum Teil unversteuert war, mit der Finanz zu tun.
Die leidige Geschichte ist mittlerweile ad acta gelegt, im Jänner dieses Jahres wurden zudem die Einbrecher gefasst. Nitsch ist daher frohen Mutes. Auf das alle Sinne umfassende, eifrig in den Eingeweiden des Mensch-Seins wühlende Spektakel, das unter anderem über das Abreagieren und die Ekstase zum Frieden führt, ist seit jeher die vielschichtige Arbeit des Orgien-Mysterien-Theater-Machers ausgerichtet – als Aktionist, Ausstatter, Regisseur und Komponist.
„Seit jeher“ stimmt natürlich nicht. Zunächst wollte Nitsch Kirchenmaler werden. 1957/58 besuchte er die Meisterklasse für Gebrauchsgrafik an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt. In der Mistelbacher Halle, gegen den Uhrzeigersinn gehängt, sind etliche (unbekannte) Werke aus jener Zeit ausgestellt, darunter das erstaunliche, von Herbert Boeckl inspirierte, ins Abstrakte ausfransende Ölgemälde „Beweinung des Satyr“ aus 1957 in all den Farben, die für Nitsch typisch werden sollten, und der Entwurf für den Umschlag einer Bibel (als Diplomarbeit) 1958.
Zu jener Zeit entstand die Idee für das Orgien Mysterien Theater. Und Nitsch schwor dem Gegenständlichen ab: Ende 1960 fand im Technischen Museum, wo er als Grafiker arbeitete, die erste Malaktion statt. In der Ausstellung ist „Opus I“ zu sehen, das allererste Schüttbild aus 1960. Zwei Jahre später entstand im Kelleratelier von Otto Muehl das erste Schüttbild mit Blut (7. Malaktion „Die Blutorgel“, zusammen mit Adolf Frohner), seine erste echte Aktion setzte Nitsch im Dezember 1962 (ebenfalls bei Muehl) um.
Zerfleischtes Lamm
Für den ersten Skandal sorgte er im Rahmen der Wiener Festwochen 1963: „Maler zerfleischt Lamm“, titelte der Boulevard, und Leserbriefschreibern kam das Speiben. Drei Jahre später setzte Nitsch eins drauf: Während der 19. Aktion entstand das erste Menstruationsbindenbild – in Kreuzform und mit dem Titel „Erste heilige Kommunion“. Der Künstler und sein Galerist wurden wegen Religionsstörung zu je sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Karrer hätte gerne auch dieses Werk (als Leihgabe aus Stuttgart) gezeigt; er musste sich mit einem Foto begnügen. Ansonsten aber vermag er den turbulenten Lebensweg des Staatspreisträgers mit zentralen Werken (wie „Golden Love“ aus 1967) sowie unglaublich vielen Dokumenten, Fotos und Presseschnipseln zu illustrieren.
Einziges Manko: Die bis 5. Mai 2019 laufende Schau hätte die Möglichkeit geboten, auch die Mitstreiter zu würdigen. Denn ohne seine Akteure und Helfer – wie Vroni Schwegler, Frank Gassner, Christl König, Andrea Cusumano und Adoptivsohn Leo Kopp – hätte Nitsch sein Universum nie errichten können.
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