Verwaltung glorreicher Vergangenheit

Gerhard Rühm im Kunstforum vor seinen Arbeiten: immer perfekt gekleidet und wie frisch vom Friseur
Die überbordende Retrospektive Gerhard Rühms im Bank Austria Kunstforum präsentiert auch müde Witze.

Auch wenn sich das mit dem Kugelschreiber geschriebene Wort "ich" auf einem Blatt in mehreren Etappen in einen Strich verwandelt, also quasi auflöst, beziehungsweise auf einem anderen zum "du" wird: Das "Ich" ist ein zentrales Wort für Gerhard Rühm. In der Retrospektive, die nun im Bank Austria Kunstforum zu sehen ist, entdeckt man es immer wieder, beispielsweise als Teil der Melodiebögen auf einem Notenblatt, "ICH-Lied" getitelt, oder auf einem frühen Beispiel konkreter Poesie: Die Buchstaben des Wortes "licht" ergeben einen Pfeil; das "ich" bildet, 14 Mal mit Schreibmaschine untereinander geschrieben, den Stamm.

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, verwendet auch im Gespräch sehr gerne das Wort "Ich", um zu betonen, was er seit Mitte der 1950er Jahren nicht alles geschaffen hat. Der Enkel eines Schrammelmusikers und Sohn eines Wiener Philharmonikers studierte zunächst Klavier und Komposition. Anfang der 1950er-Jahre gelangte er über die Auseinandersetzung mit den Kompositionsprinzipien Anton Weberns zur konkreten Poesie.

Radikale Formen

Gemeinsam mit Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener gründete er die längst legendäre, von 1954 bis 1964 aktive "Wiener Gruppe". Rühm und seine Mitstreiter überwanden die bleierne Zeit des Nationalsozialismus und suchten im reaktionären Nachkriegswien nach neuen, radikalen Formen, um sich der Sprache und ihrer Bedeutung anzunähern. Sie griffen dabei auf avantgardistische Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts zurück, etwa auf Dada, Konstruktivismus und Surrealismus.

Nebenbei gelang der "Wiener Gruppe" mit den beiden "Literarischen Cabarets" (1958 und 1959) ein Vorgriff auf Fluxus und Happening: Als einer der Höhepunkte wurde auf der Bühne mit Äxten ein Klavier, Symbol bürgerlicher Kultur, zertrümmert. Ein Foto dieser Brachialaktion, im ersten Saal nach dem Eingang auf die hintere Wand projiziert, bildet den Auftakt der von Kuratorin Heike Eipeldauer klug konzipierten Retrospektive. Das musikalische und das theatralische Oeuvre spielen zwar nur eine untergeordnete Rolle; die Schau zeigt dennoch die Vielfalt Rühms, der als Komponist, Performer, Literat und bildender Künstler immer wieder, geradezu programmatisch, Gattungs- und Genregrenzen überschritten hat.

"reizwortzeichnungen"

Dem Katalog beigefügt ist eine Art Glossar von Rühm zu seinen Werkgruppen; erläutert werden "bildgedichte und lesebilder", "melogramme", "reizwortzeichnungen", "schreibmaschinenideogramme und fototypogramme", "vertuschungen", "typocollagen", "tuschmalereinen", "automatische schriftzeichnungen", "autoerotische konzentrationsbilder", "leselieder", "musikalische stimmungsbilder", "scherenschnitte" und so weiter. Mit anderen Worten: Gerhard Rühm, immer perfekt gekleidet und wie frisch vom Friseur, nimmt alles sehr genau. Er hat daher auch sein eigenes Schaffen umfassend dokumentiert und archiviert.

Bereits 1967 gab er die Anthologie "Wiener Gruppe" heraus, seit 2005 veröffentlicht Rühm seine "Gesammelten Werke". Zuletzt erschien der siebente Band (von geplanten zwölf); er widmet sich als Ergänzung zur "auditiven poesie" der "radiophonen poesie", dem im Tonstudio entstandenen Arbeiten.

Rühm verwaltet also seit geraumer Zeit seine glorreiche Vergangenheit. Und diese endet, das zeigt die überbordende Retrospektive recht deutlich, spätestens in den 1980er-Jahren. Das große "Körperalphabet" (1991) – Umrisslinien von menschlichen Körpern in Form der 26 Buchstaben – ist eher banal und gewinnt auch nicht an Tiefe, wenn vier Blätter aus der Reihe fallen, um das Wort "DORT" zu ergeben.

Ejakulat auf Löschpapier

Aufgrund der Vielfalt, die es zu präsentieren galt, sind auch ein paar eher müde Witze ausgestellt, beispielsweise ein "i", das in der Spiegelung zum Rufzeichen wird, und zwei "Masturbationszeichnungen"; unter dem Ejakulat auf Löschpapier, am 2. Juli 1969 um 0 Uhr 20 in Berlin entstanden, steht: "Rund 400 Millionen Tote, gestorben am Licht der Welt." Erstaunlich oft hat Rühm in seinen Blättern auf erotische Posen (gespreizte Beine, Hündchenstellung) zurückgegriffen – beziehungsweise in seine Collagen pornografische Fotos integriert. Er schreckte nicht einmal davor zurück, die leeren Rechtecke in den abstrakten Werken von Piet Mondrian damit zu befüllen.

Die Retrospektive muss man trotzdem gesehen haben. Allein schon wegen der "visuellen poesie", den mittlerweile vergilbten Schreibmaschinblättern und Fotomontagen aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Mit vielen aus Publikationen ausgeschnittenen "s"- und "t"-Buchstaben entfacht Rühm einen regelrechten "Sturm". Auch der Begeisterung.

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