Mehr geht nicht. Der Andrang in der Ausstellung „Vermeer“ in Amsterdamer Rijksmuseum – der KURIER musste ebenfalls darum kämpfen, noch eine Akkreditierung zu bekommen – liegt knapp unterhalb der Grenze, ab der ein entspanntes Schauen unmöglich wird. Nachdem eine Ausweitung des Kontingents vergangene Woche den Online-Ticketshop des Museums abstürzen ließ, heißt es jetzt: Aus, Ende. Die Limitierung der Zuschauer ist angesichts des überwiegend kleinen Formats der 28 gezeigten Gemälde – nur 37 sind insgesamt von Vermeer erhalten, mehr waren noch nie an einem Ort versammelt – unerlässlich.
Und dann steht man endlich vor einem dieser Bilder und könnte zwei Stunden nur damit verbringen, einen dieser perfekt gemalten Teppiche zu bewundern, mit den winzigen Farbtupfern, die den Stoff so unglaublich fassbar erscheinen lassen.
Die große FOMO-Show
Es war wohl ein Fehler, die Zusammenkunft der Vermeer-Gemälde – angestoßen durch die Umbaupause der New Yorker Frick Collection, die ihre drei Vermeers ausnahmsweise verlieh – so sehr als unwiederbringliche Gelegenheit zu vermarkten. Die Angst, etwas zu versäumen (als fear of missing out, kurz FOMO, im mentalen Set-up verankert), lenkt nämlich davon ab, dass Vermeers Kunst das häufige, lange Schauen einfordert – und belohnt.
Dass das Innehalten, das Vermeer wie kein anderer Maler ins Bild zu fassen vermochte, auch ein Wunschzustand unserer unübersichtlichen Zeit ist, mag mit ein Grund dafür sein, dass die Schau des Rijksmuseums derart den Nerv der Zeit trifft.
Vermeers Streben nach einer geordneten Welt ist schon im Gemälde „Die kleine Straße“ zu erkennen (1658-’59) – einem der ersten Bilder, denen das Publikum in dem sehr klug und fast musikalisch getakteten Rundgang begegnet.
Auch die Fenster und Türen in dieser Straßenansicht sind wohl komponiert, sie lassen fast an die bunten Flächen eines späteren Niederländers, Piet Mondrian, denken. Nur ein Kind spielt auf der Straße – eine Ruhe, die sich der Vielfach-Vater Vermeer (er zeugte mindestens 14 Kinder, einige starben früh) vielleicht wünschte.
Mehr als das pure Leben
Vermeers Leben spielte sich großteils innerhalb einiger Häuserblöcke der Stadt Delft ab. Und doch greift die Idee, der Maler hätte sich auf die Darstellung häuslichen Lebens beschränkt, viel zu kurz, wie heute ganze Bibliotheken voller Analysen belegen.
Vermeers Innenräume – solche malte der Künstler nach Gehversuchen bei sakralen und mythologischen Themen fast ausschließlich – hatten keine reale Entsprechung, auch wenn sich darin einzelne Gegenstände finden, die der Maler besaß, wie man aus der Erfassung seines Besitzes nach seinem frühen Tod (1675, mit 43 Jahren), weiß. In den Werken kombinierte er diesen Alltag vielmehr „mit Motiven der Außenwelt in einer vielschichtigen, bedeutungsvollen Erzählung“, wie es Kurator Pieter Roelofs im Katalog formuliert.
In der Schau des Rijksmuseums ist das Begriffspaar „Innen“ und „Außen“ ein durchgängiges Organisationsprinzip. Einzelne Säle fokussieren darauf, ohne das Publikum aber mit Didaktik zu überfrachten. Briefe agieren bei Vermeer beispielsweise als Brücken zwischen Innen- und Außenwelt – sie werden geschrieben, gelesen und scheinen in Bildern wie „Dame und Dienstmagd“ wie kleine Lichtblitze auf. Fenster sind ein anderes Bindeglied.
Göttliches Licht
Als Einfallstore des Lichts, auf dessen malerische Darstellung sich Vermeer so herausragend verstand, konkurrieren Fenster wiederum oft mit „Bildern im Bild“. Diese geben (in Form von Landkarten) Ahnungen von der Welt oder verraten (etwa durch die Figur des Cupido, der in mehreren Werken auftaucht) ewige Wahrheiten über die Liebe.
Manchmal sind Bilder auch nur durch Rahmen angedeutet: Strahlt daraus das Licht der Vera Icon, des über das Schweißtuch der Veronika überlieferten „wahren“ Antlitzes Jesu? Man weiß aus dem Nachlass, dass Vermeer so eine Darstellung besaß.
Der Kurator Gregor Weber legt zu Vermeers Religiosität dabei neue Erkenntnisse vor. Er fokussiert besonders auf die Jesuiten: Der Orden spielte in der Nachbarschaft zu Vermeer, der rund um seine Heirat 1653 zum Katholizismus konvertiert war, eine wichtige Rolle. Weber nimmt an, dass der Maler jesuitische Andachtsliteratur kannte, in der die Offenbarung Gottes als „Lichtstrahl im Dunkeln“ gedeutet wurde.
Ob Vermeer das Hilfsmittel der „Camera obscura“ – einer Vorform der Fotokamera – nutzte, bleibt unbewiesen. Dass seine Werke – diese kleinen, wohlgeordneten Räume – als Tore in mehrere Dimensionen fungieren, ist aber eine Einsicht, die nachhaltig fasziniert, nicht mehr loslässt. Mehr Welterkenntnis mittels Kunst geht nicht.
„Closer to Johannes Vermeer“ heißt die qualitätvoll gestaltete Online-Tour, bei der alle Gemälde der Rijksmuseum-Ausstellung genau erläutert werden und Details eigenständig herangezoomt werden können. Auch das Mauritshuis in Den Haag, Heimat des "Mädchens mit dem Perlenohrring", bietet hervorragende Online-Ressourcen an.
Der Katalog zur Schau ist im Belser Verlag auf Deutsch erschienen (320 Seiten, 61,50 €) und vereint wissenschaftliche Akribie mit hoher Lesbarkeit und Top-Bildreproduktionen. Ebenso der Band „Vermeer – das vollständige Werk“ von Karl Schütz, in zwei Ausgaben im Taschen Verlag erschienen (150 € bzw. 25 €).
Das auch im Katalog als wichtigstes Vermeer-Werk genannte Bild „Die Malkunst“ wurde nicht nach Amsterdam verliehen – es befindet sich weiterhin im KHM in Wien.
Kommentare