... und wieder 15 Buchtipps
Eine Erholung! Ein Genuss! Ein rund 40 Jahre alter englischer Roman, jetzt erstmals übersetzt. Was hat J. L. Carr ( 1994) noch geschrieben? Wenig, und nichts liegt auf Deutsch vor. Aber diese Geschichte einer Rettung: Ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg kommt 1920 in ein nordenglisches Dorf, um in der Kirche ein Fresko freizulegen. Er ist Restaurator, um die 30, es geht ihm nicht gut, zuerst das Kriegstrauma, dann hat ihn seine Frau verlassen, er stottert, sein Gesicht zuckt wild ... Tom wird bald grinsen "wie ein frisch lackiertes Honigkuchenpferd"; und unsere Freude darüber wird groß sein.
J.L. Carr: "Ein Monat auf dem Land" Übersetzt von Monika Köpfer.
DuMont Verlag.144 Seiten. 18,60 Euro.
KURIER-Wertung: *****
Keine Antworten vom GletscherSeltsames geschieht in einem isländischen Dorf am Snaefellsgletscher. Der Pfarrer dort tauft niemanden, beerdigt niemanden, er repariert Motoren – und die Kirche ist zugenagelt. Ein Vertreter des Bischofs soll nachschauen, Fragen stellen ... und, hurra, es wird keine Antworten geben. Dafür eine Nonne, die früher ein Bordell geführt hat. Nicht nur der junge Theologe, sondern jeder, der „Am Gletscher“ liest, wird verwirrt sein von dieser Mischung aus Religion und Mythen. Das Werk des isländischen Nobelpreisträgers gilt als etwas nahezu Heiliges. Der Theologe flüchtet, ohne sich die Schuhe zu binden.
Halldór Laxness: „Am Gletscher“
Übersetzt von Bruno Kress. Steidl Verlag.
192 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Balzac sieht schräge TypenDer große Balzac schimpfte oft und gern über Journalisten – jede Kritik an seinen Romanen empfand er als Angriff, gegen den er sich wehren musste. Obwohl er selbst für Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Aber vielleicht kannte er sich deshalb so gut aus und liegt in seiner 170 Jahre alten Typologie nicht so falsch. Etwa: Der Langeweiler gilt auf Anhieb als wichtiger Mann. Er dehnt den Gedanken eines Gedanken zu einem Bündel von Binsenweisheiten usw. Dieser erstmals auf Deutsch veröffentlichte Balzac-Angriff verdient logischerweise (aber nicht ernst gemeint) keine gute Bewertung, nein , nein.
Honoré de Balzac: „Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken“ Übersetzt und herausgegeben von Rudolf von Bitter.
Manesse Verlag. 320 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: *
Der Wurm in den Muffins2,5 Milliarden Menschen essen bereits regelmäßig Insekten. Wo ist also das Problem? (Kicher) Dieses Buch will mit Hintergrundinformationen deutlich machen, dass Insekten ein Mittel gegen Hunger sind. Und den Ekel nehmen, ein bisschen, will es auch. Mit Rezepten wie Mehlwurm-Dattel-Pralinen und Buffalowurm-Muffins gelingt das nicht so gut. Aber die gebackenen Grillen-Dim-Sum und die Heuschrecken im Bierteig mit Sauce Tartar könnte man probieren. Flügel und Hinterbeine werden vorher freundlicherweise entfernt. Scampi mit Scheren und Antennen schauen auch nicht viel kuscheliger aus.
Christian Bärtsch und Adrian Kessler: „Grillen,
Heuschrecken & Co.“ Fotos von Oliver Brachat. At Verlag.
162 Seiten. 30,80 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Thriller beim GassigehenSein erster Roman 1994 war noch nicht Pflicht, Dennis Lehane war noch nicht Pflicht. Erst musste ihn das Kino entdecken (Eastwood, Scorsese) , damit man hierzulande auf den Amerikaner – mit Verlaub – abfährt ... der immer vormittags mit dem Hund spazieren geht, um sich für die Nacht, wenn er schreibt, etwas einfallen zu lassen. Sein Debüt, einst hieß es „Streng vertraulich“, wurde als „Ein letzter Drink“ neu übersetzt. Die zu Serienhelden werdenden Bostoner Privatdetektive Kenzie & Gennaro suchen eine verschwundene schwarze Putzfrau und finden Rassismus, korrupte Politiker, Drogen.
Dennis Lehane: „Ein letzter Drink“
Übersetzt von Steffen Jacobs.
Diogenes Verlag. 368 Seiten. 16,50 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Eineinhalb Kilo Game of ThronesHier sieht man die Welt von „Game of Thrones“ aus der Sicht eines fliegenden Drachen. Aber die 12 Landkarten (auf dickem Papier) sind nicht „kindisch“ illustriert, sondern sozusagen echt. Es geht – für die Fans – um Informationen und um ein längeres Verweilen angesichts des Zitternden Meeres und bei den Bergen des Morgens, und man kann sich ausrechnen, wie weit das Land jenseits der Mauer von Winterfell entfernt ist. Eineinhalb Kilo Kartenmaterial im Schuber steht zur Verfügung.
Man muss sich ja irgendwie beschäftigen, bis US-Autor Georg R.R. Martin die Geschichte endlich zu Ende bringt.
George R.R. Martin:
„Die Länder von Eis und Feuer“
12 vierfarbige Landkarten von Jonathan Roberts. Gefaltet.
Penhaligon Verlag. 41,20 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Das Jahrhundert des KriegesWenn’s einer schafft, mit „Europa 1914 bis 1949“ in die Bestsellerlisten zu gelangen, dann der britische Historiker, Hitler-Biograf und sehr gute Erzähler Ian Kershaw. Die einzelnen Staaten beobachtet er bei ihrer Entwicklung, daraus entsteht das Gesamtbild bzw. Kershaws Interpretation – etwa, dass der Erste Weltkrieg unvermeidbar gewesen sei und 1936 die allerletzte Chance bestanden habe, durch Widerstand Hitler zu vermeiden. Von Kershaws Versuchen, die Zeit zu begreifen, profitiert man enorm. Am zweiten Teil vom Kalten Krieg bis in die Gegenwart arbeitet der 73-Jährige zurzeit.
Ian Kershaw: „Höllensturz“
Übersetzt von Klaus Binder, Bernd
Leineweber und Britta Schröder. DVA. 768 Seiten. 36 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Poirot ohne Agatha ChristieWer war’s? Ein ganzes Dorf kommt für den Mord an einem eh schon Todkranken infrage, der soeben reich geerbt hat. Hercule Poirot ermittelt zum zweiten Mal ohne Agatha Christie. Die Lyrikerin Sophie Hannah macht das mit Charme, aber auch mit Leerläufen.
Sophie Hannah: „Der offene Sarg“
Übersetzt von Giovanni und
Ditte Bandini. Atlantik Verlag. 350 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Nichts weiß man über die KlobrilleWie kommt Anton Bruckners Brillenglas in Beethovens Grab? (Er hat sich übrigens sehr darüber gefreut.) Und was hat Hindemith für einen Klobrille mit einer Saite plus Geigenbogen komponiert? Mit dem Wälzer will man sich augenblicklich einsperren; und mit einem Plattenspieler sowie viel Musik.
Rainer Schmitz und Benno Ure:
„Tasten, Töne und Tumulte“
Alles, was Sie über Musik nicht wissen. Siedler Verlag.
1.168 Seiten. 51,40 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Speck ist nicht verbotenIn einigen Gegenden ist die Chance, 100 Jahre alt zu werden, besonders groß. In Ogliastra (Sardinien) etwa und Småland (Schweden) und in Okinawa (Japan). Was essen die Menschen dort? Man weiß es ja eh: Sie essen 1.) wenig und 2.) mit Freunden und 3.) gut. Also nichts Fertiges/Halbfertiges, großteils vegetarisch, Fleisch von Lamm und Ziege, fast keinen Zucker, kaum Weißmehl. Die Rezepte sind Empfehlung – wie überhaupt das ganze Buch: Gebratene Feigen mit Ziegenkäse; Kohlsprossen mit Speck und Birne; leicht gerösteter Lachs mit Sesam ... Klingt herrlich und so gar nicht nach einer Diät.
Niklas Ekstedt und Henrik Ennart:
„Das Kochbuch der 100-Jährigen“
Übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz. Good Life Books by Fackelträger
Verlag. 166 Seiten. 20 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Da will man nicht wegWiener Wahnsinn, das ganze Jahr: Dieses bunte Buch ist scharfe Munition für alle, die nicht nörgeln, sondern mit Freude sagen: Da will man nicht weg, nicht einmal im Urlaub. Denn dann hätte man Zeit, auf der Ringstraße Seifenkistl zu fahren und einen 30-Tonnen-Bagger zu lenken und an der Außenfassade des Hotels Ibis zu laufen ... Wer’s ruhiger will, kann sich in einem bestimmten WC am Karlsplatz Opernmusik anhören. Ist ja nur ein Beispiel. Soll ja nur verdeutlichen: Das Buch verlässt alltägliche Pfade und liefert die geballte Ladung. Wo Bill Clinton Schneekugeln kaufte, erfährt man auch.
Alexandra Gruber und Wolfgang Muhr:
„20 x Wien schräg & schrill“
Pichler Verlag. 173 Seiten.19,90 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Sherlock Holmes war gesternDer beste Detektiv im viktorianischen London war nicht Sherlock Holmes, nein, Sidney Grice hieß er. Ein mieser Vogel, geldgierig, zynisch, dämlich: Braune Schuhe, meint er, tragen nur die armen Leute vom Land. So wird das Lesen interessant. Wie ihm sein Patenkind zeigt, wo Gott wohnt, ist auch nicht übel. Und dass sich der erste Roman der Serie mehrmals dreht, sodass es auch den routinierten Krimilesern nicht gelingen wird, früh den Frauenmörder zu entlarven, das freut ebenfalls. Der britische Autor arbeitete 30 Jahre als Zahnarzt. Er weiß zumindest, wie man nicht auf die Nerven geht.
M.R.C. Kasasian: „Mord in der Mangle Street“
Übersetzt von Johannes Sabinski und Alexander Weber. Atlantik
Verlag.399 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Insel der GlückseligenInseln, die es gar nicht gibt, gibt es wahrscheinlich immer noch. Im Jahr 2009 zum Beispiel suchte Mexiko die Insel Bermeja. Sie ist auf Karten eingetragen. Ein erdölreiches Grundstück im Golf. Aber nicht da. Nie da gewesen. Ein Sehnsuchtsort wie Atlantis,Thule ... irgendeine der rund 130.000 Inseln wird doch wohl der Platz sein, an dem die Glückseligkeit wohnt! Man hat nicht das Gefühl, dass der Autor, ein deutscher Journalist, bei seinen 30 Porträts imaginärer Inseln fürs Thema brennt. Ist aber egal, im Kopf können daraus trotzdem wunderbare Geschichten entstehen.
Dirk Liesemer: „Lexikon der Phantominseln“
mareverlag. 144 Seiten. 24,70 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
In die Auslage mit ihmFriedrich Hahn schreibt, um das Geschehene zu entwirklichen. Und um das Entwirklichte mit dem Geträumten zu verflusen ... Bevor es rufschädigend wird: Der gebürtige Waldviertler ist sehr auf dem Boden geblieben. Eine spannende Auslagendekorateurin hat wer diesmal, die Auslagen werden beklatscht, und sie – 48 Jahre alt – bleibt unbeachtet. Deshalb mischt sie manchmal Sachen, um geheimnisvoll zu wirken. Jetzt liegt ein Toter in einer „ihrer“ Auslagen. Es bleibt dabei: Friedrich Hahn ist einer der originellsten Schriftsteller Österreichs; und, bei 35 Büchern, einer der unbekannten.
Friedrich Hahn:
„Die Schaufensterfrau“
Edition Roesner. 198 Seiten. 24,90 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Hilfe für die Alten MeisterIn seinen Interviews anlässlich der Frankfurter Buchmesse war der britische Maler David Hockney wortkarg. Aber mit dem Kunstkritiker Martin Gayford hat er stundenlang geredet. Wochenlang. Und zwar über die „Welt der Bilder“ – von Höhlenmalerei über Schnappschüsse bis Kino. Bilder als eigene Kategorie. Der 79-Jährige konnte bei dieser Gelegenheit seine Ansicht vertiefen, dass europäische Maler lange vor Geburtsstunde der Fotografie 1839 mittels Linsen und Spiegeln projizierte Bilder benutzen. Ein Mauserl sein bei diesem Gespräch: sehr erstrebenswert!
David Hockney und Martin Gayford: „Welt der Bilder“
Sieveking Verlag. 310 Abbildungen.
360 Seiten. 46,30 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Kommentare