Und wenn man glücklich ist – was kommt danach?

Schreiben heißt suchen: Clarice Lispector (1920–1977) war die literarische Sensation im Brasilien der 1940er-Jahr.
Die vor 25 Jahren verstorbene Brasilianerin Clarice Lispector wird ein Star der Frankfurter Buchmesse.

Nachdem sie in Ägypten der Sphinx gegenüber gestanden war, notierte sie:

„Ich habe sie nicht entziffern können. Aber sie mich auch nicht ...“

Clarice Lispector.

Tochter eines jüdischen Hausierers im ukrainischen Dorf Tschetschelnik, als Baby mit den Eltern nach Rio geflüchtet – wie konnte sie Brasilien erobern?

Heute, 35 Jahre nach ihrem Tod, zeigen Briefmarken ihr Gesicht, und ihre Geschichten werden in U-Bahn-Stationen von Automaten verkauft.

Man hätte sonst ja fast glauben müssen, die Literatur Brasiliens (ab Oktober Gast der Frankfurter Buchmesse) sei nur noch auf Paulo Coelho reduziert und auf seine Botschaften wie:

„Das Leben kann, je nachdem, wie wir es leben, kurz oder lang sein.“

Clarice Lispector war komplizierter gestrickt. Sie zeigte Wolf und Mensch, Mann und Frau, das Kind und den Erwachsenen. „Ich bin ihr alle“, hat sie gesagt. „Ich bin so geheimnisvoll, dass ich mich selbst nicht verstehe.“

Als alleinerziehende Mutter gab sie in Zeitungen Tipps, wie man die beste Mayonnaise zubereitet.

In Gesellschaft trug sie ein Stück Ambra bei sich, „der Geruch macht mich zur Schwester der heiligen Orgie von König Salomo und der Königin von Saba.“

Einsamer Punkt

Orgie und Mayo: Eine Mischung, die faszinierte und die sie als 24-Jährige gleich im Debütroman „Nahe dem wilden Herzen“ (1943!) hergezeigt hat.

Da war sie Joana und Lídia – mehr Joana zwar, aber sie sang ohne Spott aus beider Seelen, denn sie selbst trug ja beide in der Brust.

Es steht einem der Mund offen:

Einerseits, weil Clarice Lispector ein Bild nach dem anderen herausgeschoben hat, das man so noch nicht gesehen hat.

Ein Kuchen schmeckt nach Küchenschabe, ein Punkt, ein einziger Punkt ohne Dimension, wird als „das Höchste an Einsamkeit“ vorgestellt, und die Frage „Nachdem man glücklich ist, was kommt danach?“ macht Leser wehrlos.

Zumindest ist man Satz für Satz gefordert.

Andererseits staunt man über diese Heldin wie über Hesses „Steppenwolf“:

Joana kennt keine Moral. Benehmen hat sie keines. Man stelle sie sich als Hund vor, der auf den Teppich pinkelt. Das ist nicht böse, es ist ... natürlich.

Gott finden

Joana heiratet und weiß doch genau: „Die Ehe ist das Ende. Nach der Heirat kann nichts mehr passieren. Mein Gott, nie mit sich selbst zusammen zu sein!“

Und wenn man glücklich ist – was kommt danach?
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Ihr Mann hat eine Geliebte, die er schwängert. Das ist diese Lídia, sozusagen die zweite Seele in der Brust von Clarice Lispector. Sie näht gern und deckt brav den Tisch. So eine Lídia will auch ausgelebt werden. Soll sie. Alle sollen. Joana wird nicht protestieren:

„Nehmen Sie ihn, seien Sie glücklich und lassen mich in Frieden ...“

Vielleicht macht das die Autorin und ihre Romane so geheimnisvoll grandios: Clarice Lispector glaubte nicht an Gott. Und suchte ihn trotzdem. Und fand ihn beim Schreiben.

INFO: Clarice Lispector: „Nahe dem wilden Herzen“ Übersetzt von Ray-Güde Mertin. Schöffling Verlag. 272 Seiten. 20,60 Euro.

Der kleine, sehr feine Schöffling Verlag in Frankfurt hat auch gleich Clarice Lispectors zweiten Roman aus dem Jahr 1946 herausgebracht. Erstmals auf Deutsch. „Nahe dem wilden Herzen“ war vergleichsweise einfach zu lesen. In „Der Lüster“ (=Kronleuchter) geschieht außen wenig, trotz einer mysteriösen „Gesellschaft der Schatten“. Wieder geht es ums Innenleben einer jungen Frau. Virgínia öffnet ihre eigene Welt. Hier die ersten zwei Sätze des Romans:

Und wenn man glücklich ist – was kommt danach?
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„Ihr ganzes Leben lang sollte sie fließend sein. Aber was ihre Konturen beherrscht und zu einer Mitte gezogen, was sie gegen die Welt erleuchtet und ihr eine innere Macht verliehen hatte, war das Geheimnis.“

„Der Lüster“ geht sprachlich weiter, ist freier, tiefer, bewegt sich aber sehr langsam. Wichtige Erkenntnisse zu erlangen, dauert halt. Clarice Lispector selbst hat erst kurz vor ihrem Tod die Antwort auf ihre Kinderfrage gefunden: Sind Steine gemacht oder geboren? Sie sind.

Persönlicher Lieblingssatz in „Der Lüster“: „Das Lächerliche kann so gut sein, oder?“

INFO: Clarice Lispector: „Der Lüster“ Übersetzt von Luis Ruby. Schöffling Verlag. 420 Seiten. 23,60 Euro.

Die mehrfach ausgezeichnete Biografie „Clarice Lispector“ (übers. von Bernd Rullkötter, Schöffling Verlag, 38 Euro) gehört unbedingt dazu: Der Autor, der Texaner Benjamin Moser, hat sie so geschrieben, dass die Porträtierte in all ihren Widersprüchen leuchtet.

Auch zum Verstehen ihrer Bücher ist sie Hilfe. Mosers Spurensuche zwischen der Ukraine, New York, Buenos Aires und Rio war schon deshalb besonders schwierig, weil Clarice Lispector wenig geredet hat. Gespräche brach sie gern mit dem Satz ab: „Ich unterhalte mich nicht gern.“

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