Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
Ich will die Leute nicht mit meinem persönlichen Kram belästigen, das finde ich fürchterlich." Trotzdem hat Dirk von Lowtzow, Songwriter und Frontmann von Tocotronic, ein komplettes Album über die Liebe geschrieben. Aber eben ein Album mit Liedern über die Liebe, keines mit Liebesliedern.
Freitag erscheint diese elfte Platte der Hamburger Band. Sie trägt keinen Titel, ist einfach das "rote Album", weil das die Farbe der Liebe ist – am Cover repräsentiert von einem Gemälde von Kasimir Malewitsch. Song für Song widmet sich die Platte "wie eine Enzyklopädie" den einzelnen Facetten der Liebe, nähert sich Themen wie Freundschaft, Zusammenhalt, Besitzanspruch und körperliche Nähe – immer eher intellektuell als emotional.
Slogans
Auch wenn man Tocotronic nachsagt, sie hätten so mit dem "roten Album" dem Diskursrock ade gesagt, sieht der 44-Jährige das nicht ganz so: "Vielleicht wirkt es so, weil wir damit musikalisch recht poppig geworden sind. Aber es geht sicher nicht um antiintellektuelle Ressentiments gegen Diskursrock."
Exotisch
Und natürlich wird die Band, die aus der linken Szene kommt, auch beim Thema Liebe wieder politisch. Obwohl von Lowtzow da gerne zwischen seinen Songs und Aktionen trennt. Es sei eine Sache, mit Benefizkonzerten für die Organisation Pro Asyl klar Stellung zu beziehen, weil Tocotronic "die deutsche Flüchtlingspolitik für eine Schande halten".
Diese Erfahrung versuchen Tocotronic ihren Hörern mit Songs wie "Solidarität" zu geben. Bei dem hat der Spross einer Adelsfamilie gezielt einen Begriff aus der Arbeiterbewegung benützt: "Die Idee war, dass Solidarität die politische Ausformung von Liebe ist. In letzter Zeit ist der Begriff aber viel staatstragender geworden. Ich finde es gut, sich ihn wieder zurückzuerobern."
Normal
Auch "Rebel Boy" und "Zucker" gehen mit Gedanken zu Rebellion, Nonkonformismus und Exzentrik in Richtung Polit-Pop: "In ,Zucker‘, das eine flamboyante, effeminierte Lebensform beschreibt, sagen wir deutlich: Normal – wie alle anderen – wollen wir nicht sein. Das muss es bei diesem Thema geben. Sonst wäre es ja Schlager."
Info: Tocotronic live: 19. 7. Wien/ Arena7. 11. Linz/Posthof, 8.11. Graz/Orpheum Karten: 01/96 096 oder www.oeticket.com
"Die Tocotronic Chroniken" sind "keine klassische Bandbiografie, sondern eine Montage aus Bildern und Texten; ein Katalog, in dem alles preisgegeben wird und auch wieder nichts, damit den Lesern jener Freiraum des Genießens verbleibt, den die Musik von Tocotronic seit jeher erzeugt."
Kein Bändchen, kein Tocotronic-Konzert, keine Liebe: Wer am Mittwochabend zum FM4-Überraschungskonzert der Hamburger Band ins Gürtellokal B72 wollte, musste zuvor diverse Rätsel lösen und dann mit dem Codewort zum Ort der Bändchenvergabe eilen. So weit, so die Regeln.
Stunden später zwängen sich Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und der seit elf Jahren an der Gitarre partizipierende Rick McPhail via Hintereingang durch das bummvolle B72 auf die kleine Bühne, um ihr elftes, am 1. Mai erscheinendes Album zu präsentieren. Dieses trägt zwar offiziell keinen Namen, wird aber inoffiziell als das „Rote Album“ bezeichnet. „Es ist vielleicht das schwulste Album der Welt“, zitiert Dirk von Lowtzow die deutsche Tageszeitung Die Welt und erntet damit Beifall. Es geht aber vielmehr um die Liebe im Allgemeinen, die bei den zwölf neuen Songs Thema ist - direkt oder indirekt.
Die Liebe ist nahe
Das Liebeslied fällt bei Tocotronic aber ziemlich trocken, ohne Verbalschmalz und Schlagerpoesie aus. Ein offenes Liebesgeständnis, ein „Ich liebe dich!“ gibt es da nicht. Auch Slogans für neue T-Shirt-Kollektionen fehlen. Kein: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Kein: „Aber hier leben, Nein danke!“ Vielmehr singt Dirk von Lowtzow um den heißen Brei herum: Große Gefühle will man erst gar nicht aufkommen lassen. „Es geht um Liebe und Trunksucht“, erklärt er, um dann „Du bist ganz schön bedient“ anzustimmen, ein Song aus den Anfangsjahren der Band. Aus einer Zeit, in der die heutigen Mittvierziger mit ihrem Debütalbum „Digital ist besser“ der Welt den Trainigsjacken-Trend schenkten. Weiter geht es mit „Rebel Boy“, „This Boy is Tocotronic“, „Hi Freaks“ und zum Schluss „Samstag ist Selbstmord“. Dabei ist doch erst Mittwoch.
Rund eineinhalb Stunden dauert das exklusive Clubkonzert vor rund 200 Gästen, bei dem sich Tocotronic mit viel Schwung und Energie durch alle Phasen ihrer Karriere spielen. Live hat das Ecken und Kanten, der Bass treibt nach vorne, die Gitarren werden durch Effektgeräte gejagt und der Schweiß fließt. Das mit der Liebe könnte heute noch klappen...
Info: FM4 sendet am 4. Mai den Live-Mitschnitt in der Sendung Homebase. Tocotronic spielen am 19. Juli in der Arena Wien.
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