Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder

Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow über das Konzept-Album zum Thema Liebe und Versteckspiele.

Ich will die Leute nicht mit meinem persönlichen Kram belästigen, das finde ich fürchterlich." Trotzdem hat Dirk von Lowtzow, Songwriter und Frontmann von Tocotronic, ein komplettes Album über die Liebe geschrieben. Aber eben ein Album mit Liedern über die Liebe, keines mit Liebesliedern.

Freitag erscheint diese elfte Platte der Hamburger Band. Sie trägt keinen Titel, ist einfach das "rote Album", weil das die Farbe der Liebe ist – am Cover repräsentiert von einem Gemälde von Kasimir Malewitsch. Song für Song widmet sich die Platte "wie eine Enzyklopädie" den einzelnen Facetten der Liebe, nähert sich Themen wie Freundschaft, Zusammenhalt, Besitzanspruch und körperliche Nähe – immer eher intellektuell als emotional.

Slogans

Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
epa03735331 Dirk von Lowtzow, front man of German band Tocotronic, performs at the music festival 'Rock im Park' in Nuremberg, Germany, 07 June 2013. The festival runs until 09 June. EPA/DANIEL KARMANN
Trotzdem, sagt von Lowtzow imInterview mit dem KURIER, habe es ihn Überwindung gekostet, "meine Komfort-Zone" zu verlassen und weniger verklausuliert und theoretisch zu texten. "Als wir die Idee hatten, ein Album über die Liebe zu machen, haben wir schnell gemerkt: Bei diesem Thema kann man sich nicht mehr hinter Stücken verstecken, die sich aus agitatorischen Floskeln, bildhaften Collagen oder Slogans zusammensetzen. Das hat mich früher weit mehr interessiert als persönliche Befindlichkeiten. Aber diesmal musste ich näher an mir arbeiten – sonst hätten wir das Thema verfehlt. Und es wäre auch feige gewesen."

Auch wenn man Tocotronic nachsagt, sie hätten so mit dem "roten Album" dem Diskursrock ade gesagt, sieht der 44-Jährige das nicht ganz so: "Vielleicht wirkt es so, weil wir damit musikalisch recht poppig geworden sind. Aber es geht sicher nicht um antiintellektuelle Ressentiments gegen Diskursrock."

Exotisch

Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
APA11331844 - 06022013 - WIEN - ÖSTEREICH: Sänger Dirk von Lawtzow und Schlagzeuger Arne Zankv (r.) von der deutschen Band "Tocotronic" während eines Konzertes am Mittwoch, 6. Februar 2013, im Burgtheater in Wien APA-FOTO: HERBERT P. OCZERET
Mit diesem Pop-Zugang klingen Tocotronic gefälliger und einnehmender denn je. Hie und da mischen sich Chöre oder Streicher in den früher eher roh dahinschrammenden Gitarren-Sound, anderswo exotische Instrumente wie die afrikanische Kalimba oder Naturgeräusche. Aber ganz kann Textautor von Lowtzow nicht aus seiner Haut, bleibt häufig distanziert. Und selbst wenn er sich in raren Momenten wie im Song "Diese Nacht" an eigene Erlebnisse erinnert, ist der Text gespickt mit Zitaten und Referenzen aus Büchern.

Und natürlich wird die Band, die aus der linken Szene kommt, auch beim Thema Liebe wieder politisch. Obwohl von Lowtzow da gerne zwischen seinen Songs und Aktionen trennt. Es sei eine Sache, mit Benefizkonzerten für die Organisation Pro Asyl klar Stellung zu beziehen, weil Tocotronic "die deutsche Flüchtlingspolitik für eine Schande halten".

Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
epa03571205 (L-R) Keyboarder Rick McPail, singer Dirk von Lowtzow, drummer Arne Zank und bassist Jan Mueller of the German band Tocotronic perform a concert at the Burgtheater in Vienna, Austria, 06. February 2013. EPA/HERBERT P. OCZERET EPA/HERBERT P. OCZERET
Aber Kunst, sagt er, funktioniere nach anderen Regeln. Da darf in den Texten schon auch mal an der Effektivität rebellischer Hingabe gezweifelt werden: "Die künstlerische Sphäre finde ich nur gut, wenn sie hinterfragt, suchend und zweifelnd ist. Popmusik kann nur dann politisch sein, wenn Ästhetik und Politik zusammen fallen. Ich will die Leute nicht belehren. Die Leute sollen selbst ihre Lehren ziehen – über eine ästhetische Erfahrung und nicht dadurch, dass ich sage, so ist es."

Diese Erfahrung versuchen Tocotronic ihren Hörern mit Songs wie "Solidarität" zu geben. Bei dem hat der Spross einer Adelsfamilie gezielt einen Begriff aus der Arbeiterbewegung benützt: "Die Idee war, dass Solidarität die politische Ausformung von Liebe ist. In letzter Zeit ist der Begriff aber viel staatstragender geworden. Ich finde es gut, sich ihn wieder zurückzuerobern."

Normal

Auch "Rebel Boy" und "Zucker" gehen mit Gedanken zu Rebellion, Nonkonformismus und Exzentrik in Richtung Polit-Pop: "In ,Zucker‘, das eine flamboyante, effeminierte Lebensform beschreibt, sagen wir deutlich: Normal – wie alle anderen – wollen wir nicht sein. Das muss es bei diesem Thema geben. Sonst wäre es ja Schlager."

Info: Tocotronic live: 19. 7. Wien/ Arena7. 11. Linz/Posthof, 8.11. Graz/Orpheum Karten: 01/96 096 oder www.oeticket.com

"Die Tocotronic Chroniken" sind "keine klassische Bandbiografie, sondern eine Montage aus Bildern und Texten; ein Katalog, in dem alles preisgegeben wird und auch wieder nichts, damit den Lesern jener Freiraum des Genießens verbleibt, den die Musik von Tocotronic seit jeher erzeugt."

Tocotronic: Lieder über die Liebe, aber keine Liebeslieder
cover
So beschreiben Herausgeber Martin Hossbach und Autor Jens Balzer den Wälzer, der alles umfasst, was das Fan-Herz begehrt: Von einem Foto von Dirk von Lowtzow als Schulabgänger (das er bis heute in seinem Führerschein hat) bis zu Rezensionen aus der Musikpresse. Von der Einladung zum ersten Konzert von Tocotronic über Zeichnungen, Notizen und Skizzen aus dem Fundus der Musiker bis zu Balzers analytischen Texten zu den Alben der Band. So entsteht ein unsentimentaler und unterhaltsamer Überblick über das Werk und die Wirkung von Tocotronic, der doch einige sehr nette Details preisgibt.

Kein Bändchen, kein Tocotronic-Konzert, keine Liebe: Wer am Mittwochabend zum FM4-Überraschungskonzert der Hamburger Band ins Gürtellokal B72 wollte, musste zuvor diverse Rätsel lösen und dann mit dem Codewort zum Ort der Bändchenvergabe eilen. So weit, so die Regeln.

Stunden später zwängen sich Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und der seit elf Jahren an der Gitarre partizipierende Rick McPhail via Hintereingang durch das bummvolle B72 auf die kleine Bühne, um ihr elftes, am 1. Mai erscheinendes Album zu präsentieren. Dieses trägt zwar offiziell keinen Namen, wird aber inoffiziell als das „Rote Album“ bezeichnet. „Es ist vielleicht das schwulste Album der Welt“, zitiert Dirk von Lowtzow die deutsche Tageszeitung Die Welt und erntet damit Beifall. Es geht aber vielmehr um die Liebe im Allgemeinen, die bei den zwölf neuen Songs Thema ist - direkt oder indirekt.

Die Liebe ist nahe

Das Liebeslied fällt bei Tocotronic aber ziemlich trocken, ohne Verbalschmalz und Schlagerpoesie aus. Ein offenes Liebesgeständnis, ein „Ich liebe dich!“ gibt es da nicht. Auch Slogans für neue T-Shirt-Kollektionen fehlen. Kein: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Kein: „Aber hier leben, Nein danke!“ Vielmehr singt Dirk von Lowtzow um den heißen Brei herum: Große Gefühle will man erst gar nicht aufkommen lassen. „Es geht um Liebe und Trunksucht“, erklärt er, um dann „Du bist ganz schön bedient“ anzustimmen, ein Song aus den Anfangsjahren der Band. Aus einer Zeit, in der die heutigen Mittvierziger mit ihrem Debütalbum „Digital ist besser“ der Welt den Trainigsjacken-Trend schenkten. Weiter geht es mit „Rebel Boy“, „This Boy is Tocotronic“, „Hi Freaks“ und zum Schluss „Samstag ist Selbstmord“. Dabei ist doch erst Mittwoch.

Rund eineinhalb Stunden dauert das exklusive Clubkonzert vor rund 200 Gästen, bei dem sich Tocotronic mit viel Schwung und Energie durch alle Phasen ihrer Karriere spielen. Live hat das Ecken und Kanten, der Bass treibt nach vorne, die Gitarren werden durch Effektgeräte gejagt und der Schweiß fließt. Das mit der Liebe könnte heute noch klappen...

Info: FM4 sendet am 4. Mai den Live-Mitschnitt in der Sendung Homebase. Tocotronic spielen am 19. Juli in der Arena Wien.

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