Thomas Bernhard in Hamburg: Hass und Horror, Himmler und Hölle
Manche Stücke von Thomas Bernhard, darunter „Heldenplatz“, ähneln sich nicht nur vom Aufbau her: Sie beginnen mit einem langen Dialog als Exposition. In „Ritter, Dene, Voss“ (1984) wie in „Vor dem Ruhestand“ (1979) ist zudem die Figurenkonstellation genau gleich. Denn Bernhard schildert familiäre Höllenszenarien, aus denen es für die Beteiligten, den Bruder und seine beiden Schwestern, kein Entrinnen gibt.
In „Vor dem Ruhestand“ zwingt der ehemalige SS-Offizier Rudolf Höller die Schwestern Vera und Clara, mit denen er im elterlichen Haus wohnt, den Geburtstag Heinrich Himmlers zu feiern. Der querschnittgelähmten Clara, die meist stumm Widerstand leistet, zieht er gerne die KZ-Jacke an. Und Vera darf sich ihm hingeben.
Auch in „Ritter, Dene, Voss“ regiert der Hass. Die eine Schwester, in der Uraufführung von Kirsten Dene gespielt, hat Ludwig, der seine Erlösung in der Philosophie fand, aus Steinhof zurück in die elterliche Wohnung geholt. Die andere, einst von Ilse Ritter verkörpert, opponiert. Und Ludwig verzweifelt an der stickigen Atmosphäre.
Politisches Statement
Wohl aus Anlass des 30. Todestags von Thomas Bernhard am 12. Februar haben Karin Henkel und Rita Thiele diese beiden Stücke miteinander verzahnt – und um Motive aus dem Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ ergänzt: Franz-Josef Murau muss nach Wolfsegg reisen, um auf dem verhassten Familiensitz zusammen mit den beiden verachteten Schwestern die verunfallten Eltern und den Bruder zu beerdigen.
Als Grundgerüst für die bejubelte Uraufführung, die am Samstagabend im Hamburger Schauspielhaus stattfand, wählten Henkel und Thiele „Vor dem Ruhestand“. Bei „Ritter, Dene, Voss“ nahmen sie gröbere Umstellungen vor, um Parallelitäten herauszuarbeiten. Noch viel mehr Freiheiten gestatteten sie sich bei „Auslöschung“, Franz-Josefs Bruder etwa erwähnen sie nicht einmal. Sie übernehmen auch nicht die Erzählperspektive bzw. den inneren Monolog, sondern schalten den Roman mit den beiden Stücken gleich.
Die Hereinnahme von Muraus Wunsch, alles auszulöschen, was mit den katholisch-nationalsozialistisch Eltern zusammenhängt, ist allerdings von zentraler Bedeutung – als Kontrapunkt zum Stück „Vor dem Ruhestand“, in dem Rudolf und Vera eine Zeit herannahen sehen, in der es nicht mehr notwendig ist, Himmlers Geburtstag im Geheimen feiern zu müssen: „Wir werden bald wieder an der Macht sein.“ Die Kompilierung „Die Übriggebliebenen“ ist daher ein enorm politisch-wuchtiges Statement – auch wenn die Familienhölle im Mittelpunkt steht.
Zu Beginn scheint alles recht friedlich im monströsen, dunkelgrau gestrichenen Puppenhaus, das Muriel Gerstner und Selina Puorger zimmern ließen. Neun Kinder tollen herum. Doch dann werden sie von den Erwachsenen zum Fahrstuhl geführt – und singend versinken sie.
Erniedrigendes Spiel
Das erniedrigende Spiel beginnt. Den drei Strängen kann man, auch wenn es ein andauerndes Themen-Ping-Pong (Ärzte, Theater, Kunst) gibt, erstaunlich gut folgen. Die signalhaften Kostüme tragen viel zur Klarheit bei. Klaus Bruns hat zudem mit großer Lust Deformationen herausgearbeitet: Angelika Richter dauert als Vera mit elendem Hängebusen, Jan-Peter Kampwirth, halbseitig eklig verunstaltet, erleidet hoch präsent alle Qualen.
Bettina Stucky ist ein betuliches Double für Kirsten Dene, Gala Othero Winter glänzt als verhärmte, ächzende Schwester. Sie warten auf Ludwig, der gerade duscht. Vera und Clara warten derweilen auf Rudolf, und die beiden Schwestern von Franz-Josef, konturlose Puppen, drapieren im Hintergrund die Särge der Eltern.
Dann erscheinen die Männer – nackt oder in Unterhosen. Tilman Strauß zieht sich für das Begräbnis schwarz an, André Jung schlüpft in die SS-Uniform, Lina Beckmann lässt sich als Ludwig abrubbeln. Geschickt stellt Henkel Figuren nebeneinander, ihre Inszenierung ist richtiggehend durchchoreografiert: Wenn Ludwig feststellt, zu Hause nicht gerade gehen zu können, ähnelt er verbogen der verloren herumlungernden Clara. Dass in der Wohnung seit Jahrzehnten nichts verändert wurde, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Dass man lüften müsste, meint auch Ludwig, die Lichtgestalt: Er reißt das Fenster auf – und stürzt sich in die Tiefe. Mehrfach und vergeblich.
Parallel zur Herzattacke des SS-Offiziers Höller stopft Lina Beckmann – eine wirklich würdige Gert-Voss-Nachfolgerin – die Brandteigkrapfen in sich hinein. Nicht bis zum Erbrechen. Bis zum Ersticken. Ein großes Finale.
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