Bedeutungswandel
Seit vielen Jahren gelingt dem Amerikaner Bemerkenswertes: mit jedem seiner Bücher im Gespräch zu bleiben, einerseits aufgrund seiner Erzählkunst, andererseits dank aktuell kontroversieller Themen, die er aufgreift. Büchern wie die Drogensaga „Grün ist die Hoffnung“ etwa, das Einwanderer-Drama „América“ oder der Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“, über die Ausbeutung der Natur. Zuletzt erschien „Sprich mit mir“, worin Boyle sich mit dem Umgang des Menschen mit dem Tier auseinandersetzt. Kritisch. Der Mann mit den bunten Converse und der wilden Frisur redet nichts schön – weder sinnloses Tierleid, noch die Klimakrise.
Und jetzt also Weihnachten. „Das Interview, das wir gemacht haben, hat mir sehr gut gefallen“, so Boyle. „Ich würde gerne einen Text über das Weihnachtsfest meiner Kindheit schreiben.“ Und so geschah es. Jeder feiert Weihnachten auf verschiedene Weise, und T. C. Boyle erzählt uns von seiner, nimmt uns mit in die Fünfzigerjahre und seine Kindheit nahe New York. Und gibt uns einen ganz persönlichen und ungeschminkten Einblick, befreit vom Tannenzauber-Kitsch, der im Advent sonst um jede Ecke weht, welchen Bedeutungswandel das Weihnachtsfest für ihn im Laufe der Jahre genommen hat.
T.C. BOYLE: WEIHNACHTEN EINST UND JETZT
Wenn wir über die Tradition winterlicher Feiertage sprechen, dann meinen wir vielleicht die heidnischen Riten zur Wintersonnenwende, wenn die Sonne zurückkehrt, oder die christlichen Zeremonien zur Geburt von Gottes Sohn oder auch einfach die Rituale des Shoppens und Schlemmens im Familienkreis, die unsere weltliche Gegenwart hervorgebracht hat. Und doch feiert jeder und jede von uns nach eigener Bestimmung und auf eigene Weise.
Für mich hat sich diese Bestimmung im Laufe der Jahre geändert. Heute genügt sich die äußere Fassade der Feiertage selbst und versinkt jeder tiefere Sinn in einer Suppe der Verbitterung über die unverhohlene Verlogenheit des Versuchs, einem bedeutungslosen Universum Bedeutung überzustülpen.
Im Anfang war Glanz und Glorie allüberall. Ich wuchs in einem römisch-katholischen Arbeiterhaushalt in Peekskill auf, fünfzig Kilometer nördlich von New York City. In der Zeit, von der ich hier erzähle – den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts – hatten die Folgen der Erderwärmung unsere Winter noch nicht eingedampft, wir hatten also Schnee, echten Schnee, und der nährte natürlich die Legenden vom Schlitten und von den Rentieren und dem wohlwollenden Geschenkebringer in roter Gewandung, dessen einziger Lebensinhalt im Schenken und Liebsein und Liebhaben bestand: Santa Claus. Der Heilige Nikolaus. Der Weihnachtsmann. Das Christkind. Als meine Schwester und ich noch sehr jung waren, konnte man den Zauber mit Händen greifen. Wir gingen mit einer Geschichte zu Bett und erwachten am nächsten Tag zu einem üppig geschmückten Weihnachtsbaum mit darunter ausgelegten Geschenken, einem Wunder höchsten Ranges. Santa Claus, oh ja.
Damals waren meine Eltern in ihren Zwanzigern und stolze Eigentümer des zweiten Reihenhauses in einem damals neu entstehenden Bauprojekt. Das erste Haus, gleich rechts von dem unseren, gehörte einem anderen jungen Paar, das keine eigenen Kinder hatte. Ich kann mir heute lebhaft vorstellen, wie die beiden Paare in diesem nächtlichen Akt der Taschenspielerkunst den Geist der Weihnacht regelrecht aufsogen und allem Leben einhauchten, während wir nebenan ahnungslos vor uns hinschlummerten. Noch besser war der Spannungsaufbau, der zu dieser prächtigen, ganz und gar vollkommenen Erfüllung hinführte: die Bilderbücher, die bunten Lichter in Reih und Glied und die Weihnachtsgeschichte, die unsere Lokalzeitung jährlich in Fortsetzungen herausbrachte, beginnend am ersten und kulminierend im Finale am fünfundzwanzigsten Dezember.
Lang ist das her, ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten dieser Geschichten, doch sie hatten mit Schneestürmen zu tun und Elfen und heimeligen Behausungen und gutem Essen, verzehrt an einem flackernden Feuer, und wir besaßen zwar weder einen Kamin noch einen Schornstein, aber Santa Claus fand in seiner unendlichen Weisheit für alles eine Lösung. Jeden Abend las meine Mutter uns die neueste Folge vor, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und es war der Höhepunkt unseres Tages, besser noch als Fernsehen. Ich weiß nicht mehr, ob ein Kirchgang am ersten Weihnachtstag zum Programm gehörte, aber es kann eigentlich gar nicht anders gewesen sein: Weihrauch, Stimmengeleier, Orgelmusik, und dann ging es zurück nach Hause zur Weihnachtstafel mit Truthahn, Süßkartoffeln, Bratensaft, Cranberrysauce und vielen anderen Köstlichkeiten. Und weiter? Schlittenfahren. Das neue Spielzeug. Fußball auf der gefrorenen Winterwiese. Kann es etwas Besseres geben?
Als wir älter wurden, nahmen die Rituale eine Wendung zum etwas weniger Geheimnisvollen, erfüllten uns aber immer noch auf ihre eigene Art. Wir durften nun beim Aufstellen und Aufputzen des Baumes helfen und hatten ganzen Tage Gelegenheit zu spekulieren, was sich in den verpackten Schachteln verstecken könnte, die wir im Rausch kindlicher Verzückung ehrfurchtsvoll schüttelten und beschnüffelten. Es gab eine leichte Mahlzeit, am Heiligen wie an jedem Abend zubereitet von meiner Mutter, danach die Mitternachtsmette, ein elendslanges Hochamt mit den Kolumbusrittern und ihren Schärpen und Schwertern, mit salbungsvoll leierndem Priester und Kirchenchor (dass ich Chorgesang auch heute noch liebend gern höre, liegt gewiss an der erhebenden Abwechslung, die er mir in diesen qualvollen Stunden gönnte). Dann wieder heim, wo die Geschenke warteten, dazu Apfelmost, Kekse und als Krönung ein Dip aus Packerlzwiebelsuppe und Sauerrahm, kredenzt mit dem fettesten und salzigsten aller Leckerbissen: Kartoffelchips.
Habe ich Gott und seinen einzigen Sohn (der immerhin Geburtstag hatte) in den kargen, geisterhaften Stunden in der Kirche ausreichend gewürdigt? Nein, leider, ich fürchte, das kann ich nicht behaupten. Wichtiger als der Herrgott waren mir die Geschenke ebenso wie Santa Claus selbst, wenngleich dieser sich als liebevolle Karikatur in den Hintergrund zurückzuziehen begann, sobald die Wahrheit über ihn ans Licht kam. Aber Gott? Seine Existenz habe ich nie bezweifelt. Er war eine Tatsache, das wusste ich, weil man mich entsprechend indoktriniert hatte (bis zu einem gewissen Grad jedenfalls – unsere religiöse Erziehung war vernachlässigbar, und nur meine Mutter ging mit uns sonntags in die Kirche, während mein Vater sich weigerte mitzukommen, mit dem Argument, er habe seine Jugend in einem katholischen Waisenhaus zugebracht und genügend Gottesdienste absolviert, um von allen Sünden freigesprochen zu werden).
Ein paar Jahre später fiel mir auf, dass Gott und Jesus in die gleiche Schublade gehörten wie der Weihnachtsmann – ganz nett, aber eigentlich Betrug –, und ich verwarf sie gemeinsam mit anderen Indizien für einstige Kindlichkeit. Als ich meiner Mutter vom Geounterricht in der Schule erzählte, erlaubte ich mir die Anmerkung, dass Gott und die Darstellung der Schöpfung in der Bibel einfach nicht glaubhaft seien. Sie sagte, und das ist ihr hoch anzurechnen: „Also das musst du entscheiden.“ Seitdem war ich in keiner Kirche mehr.
Und das bringt uns zur Gegenwart: Weihnachten heute. Ich mag das Fest an sich, wegen der nostalgischen Erinnerung an eine schlichtere Zeit im Leben, als meine Weltsicht noch nicht so ernüchtert war, doch das Shoppen und Kaufen und Anhäufen im Übermaß erfüllt mich mit Grauen. Meine Kinder sind ohne Religion aufgewachsen, Weihnachten war nur eines von vielen Familienfesten wie Thanksgiving oder der Independence Day, nur intensiver und reicher an Familienritualen wie dem gemeinsamen Essen, dem Baum, Geschenken und Keksen, Eggnog und dem ganzen Rest. Ich selbst lasse es mir nicht nehmen, Händels „Messias“ in Dauerschleife zu hören, am Kamin sitzend Dickens’ Weihnachtsgeschichte zum wiederholten Mal zu lesen und die verpackten Geschenke als Ausdruck von Frömmigkeit und Schönheit zu bewundern, sind sie doch in diesem Zustand so viel wertvoller und befriedigender als nachher, wenn sie nackt und vom Akt des so genannten „Auspackens“ entweiht daliegen. Denn dann sind sie nur noch Dinge, noch mehr Dinge in einer an Dingen übervollen Welt.
Frohe Weihnachten.
Übersetzt von Martin Thomas Pesl
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