"Tabu": Ein Krokodil kann sich erinnern
Das Krokodil wird sicher in die Filmgeschichte eingehen. (Der Film auch! Was für ein Film!) Selten hat ein Krokodil im Kino so ergreifend geblickt, so melancholisch geblinzelt. Vielleicht, so grübelt der Erzähler im Prolog, vielleicht, weil in ihm ein liebestrauriger Wissenschaftler steckt. Ob er aufgefressen wurde oder nur reinkarnierte, bleibt ein Rätsel.
Ein Krokodil, wird der portugiesische Regisseur Miguel Gomes (40) später im Interview sagen, hat mehr gesehen als die Menschen um ihn herum; ein Krokodil birgt Erinnerungen an Glück und Unglück. Und tatsächlich geht es in diesem immer wieder komischen, meist herzzerreißenden Film um Erinnerungen. Erinnerungen an die Jugend, an die Unmöglichkeit der Liebe und ihren besten Ort dafür: das Kino.
Das verlorene Paradies
Gomes erzählt in schwarz-weißen Bildern vom Paradies in Afrika und dem verlorenen Paradies der Gegenwart in Lissabon und teilt so "Tabu" in zwei Hälften: das Alter und danach erst die (verlorene) Jugend. Im heutigen Lissabon begleiten wir die sozial engagierte Katholikin Pilar. Sie wohnt neben Aurora, einer greisen, verarmten Dame, die ihr letztes Geld im Casino verspielt und mit eigenwilligem Stolz ihr Dasein fristet: Sie lebt neben und mit ihrer schwarzen Haushälterin fast wie in alten Kolonialzeiten. Als Aurora im Spital im Sterben liegt, schreibt sie einen Namen auf: Ventura.
Ventura kommt und wird in der Folge zum Erzähler des zweiten Teils, der im alten, kolonialen Afrika spielt und eine wilde Liebesgeschichte mit Aurora entblättert. Er, ein Abenteurer, lernte sie damals kennen und lieben, tragischerweise als Ehefrau eines Bekannten. Eine Dreiecksgeschichte am Fuße der Tabu-Berge. Ein Tabu vor allem, weil Aurora von ihrem Mann schwanger ist.
Gomes erzählt dies wie eine Geisterbeschwörung des alten Stummfilm-Kinos und erfindet es dabei – anders als "The Artist" – neu. Der zweite Teil von "Tabu" kommt vollends ohne Dialoge aus: nur der Erzähler, der spricht, Geräusche, die anklopfen, eine Band, die spielt, und karge eindrückliche Bilder. Gomes gelingt es virtuos, in Bildern umzusetzen, wie wir Menschen uns erinnern: kaum je an einzelne Sätze, viel mehr an Vogelstimmen, Bilder des Glücks, wie einen Esel mit Erektion oder Tränen des Unglücks beim Singen von "Be My Baby". "Tabu" ist vieles: großer Popsong und kleine Sinfonie, Melodram und Abenteuerfilm, Politik und Poesie. Mit welch Leichtigkeit Gomes dabei Zeiten und Länder und Figuren wechselt, ist atemberaubend und zum Krokodilstränenweinen schön.
Tabu Portugal 2012. Melodram. 111 Minuten. Von Miguel Gomes; mit Anna Moreira, Carloto Cotta
KURIER-Wertung: ***** von *****
Trailer TABU (Miguel Gomes, PT/BR/DE-2012) OmdU. Ab 08. November im Kino from Stadtkino Filmverleih on Vimeo.
KURIER: "Tabu" ist zweigeteilt: erst Gegenwart in Lissabon, dann Vergangenheit in Afrika. Warum?
Miguel Gomes: Die Zweiteilung des Films ist, als hätte man zuerst den Kater – und erst danach kommen die Feier und das Trinken. Indem man als Zuschauer den Kater im Film schon durchlebt hat, ändert sich dann das Verhältnis zum Trinken. Das passt gut zu den Figuren, weil sie sich ja nach ihrer Jugend sehnen.
Und wie hat das Drehbuch ...
... für den zweiten Teil hatten wir gar keines! Aber das musste ich im Vorfeld verbergen (lacht) . Ums Konzept geht es doch nicht: Es geht um Afrika, das eine Erinnerung ist, eine falsche Erinnerung. Darum, wie mächtig das Kino ist. Es kann diese falschen Erinnerungen erschaffen. Wie das Bild vom Kolonialafrika.
Wie hat denn Ihre Liebe zum Film begonnen?
Im Feriencamp, da war ich sechs Jahre alt, hat mich Disneys "Dumbo" sehr bewegt. Ältere Kinder machten sich darüber lustig, und ich stritt mit ihnen und unterlag natürlich. Zwei weitere Meilensteine waren für mich Spielbergs "Jäger des verlorenen Schatzes" und Godards "Nouvelle Vague".
Die Liebe zu Tieren im Film ist Ihnen ja geblieben: Esel bis Krokodile kommen vor.
Ich mag Tiere in Filmen, obwohl die erste Lektion an der Filmschule war: "Drehe nie mit Tieren und Kindern", weil man sie nicht kontrollieren kann. Als ich dann Filme machte, verstand ich schnell, dass es genau darum ging: dass man am Set zulassen muss, Kontrolle zu verlieren .
Der Film ist sehr poetisch. Lesen Sie gerne Gedichte?
Die Poesie, die mir etwas bedeutet, sind Texte von Popsongs. Eigentlich versuche ich Filme zu machen, die Gefühle erzeugen, wie sie großartige Popsongs in mir auslösen.
Das ist gelungen: "Tabu" gilt als einer der wichtigsten Filme des Jahres.
Vielleicht ist es ja mein erster Disney-Film geworden (lacht) . Mein "Dumbo".
Drama - Schuld- und Nicht-Sühne-Geschichte um ein totes Mädchen und ein Paar (Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel), das durch den tödlichen Unfall Nähe wiederfindet.
KURIER-Wertung: *** von *****
Komödie - Kevin James als Schullehrer, der als Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Geld für den Musikunterricht sammelt. Formelhaft, wenig lustig.
KURIER-Wertung: *** von *****
Thriller - Verschwörungstheorien zum Thema 9/11 als klaustrophobes Kammerspiel.
KURIER-Wertung: **** von *****
Horror - Konfektions-Variante von "Der Exorzist": Der Dämon ist ein Dibbuk, ein jüdischer Totengeist.
KURIER-Wertung: *** von *****
Doku - Vier Frauen und der Traum, Musik zu komponieren. Flotter Musikerinnenfilm von Mirjam Unger.
KURIER-Wertung: **** von *****
Thriller - Spannender Thriller und witzige Hollywood-Farce von und mit Ben Affleck: Sechs Amerikaner werden aus dem revolutionären Teheran hinausgeschmuggelt.
KURIER-Wertung: ***** von *****
Doku - Marina Abramović brachte durch ihr dreimonatiges Stillsitz en im New Yorker MoMA ungeahnte Emotionen aus Besuchern und sich selbst hervor. Der Film zeigt, wie und wieso.
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