T.C. Boyle: Geschichte vieler Invasionen

Umweltschützer gegen Umweltschützer: Der amerikanische Autor provoziert in seinem neuen Roman "Wenn das Schlachten vorbei ist".

Nichts lässt er offen. Thomas Coraghessan Boyle füllt seine Wörter bis in die kleinste Ecke des Buchs. Dass er uns mit der (grandiosen) Beschreibung eines Schiffbruchs hilft, ist unumgänglich.

Aber selbst eine amerikanische Schnellstraße kann man sich nicht so vorstellen, wie man sich eine Schnellstraße vorstellen will. Der Kerl beschreibt sogar die Autos!

Bei der entscheidenden Frage allerdings, da lässt er uns allein. Boyle ist kein Prediger. Er hat sich ja selbst erst beim Schreiben von "Wenn das Schlachten vorbei ist" eine Meinung gebildet (die er nicht verrät).

Das macht er immer: Beim Schreiben löst er sich von vorschnellen Urteilen und öffnet sich.

Diese Frage lautet: Wer darf entscheiden, welches Lebewesen ein Recht zu leben hat und welches nicht?

Gleichgewicht

Womit wir in der kalifornischen Stadt Santa Barbara sind und auf den vorgelagerten vier Vulkaninseln. Anacapa zum Beispiel, die kleinste. Sehr schwarz. Keine Menschen. Fast nur Felsen. Und Tausende Ratten. Die sind ja gute Schwimmer, und einige hatten es vor 150 Jahren von einem untergehenden Raddampfers an Land geschafft.

Zumindest das ist keine Erfindung: Biologen des Insel-Nationalparks haben die Ratten vergiften lassen, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Denn die Ratten fraßen die Vogeleier, und auch die Zwergfüchse verschwanden.

Um den "Mord" zu verhindern, hatte ein anders denkender Naturschützer Vitamin K auf Anacapa verstreut. Soll gut sein gegen Rattengift. Half aber nichts, weil es regnete ...
Wie man in Boyles Romanen mitunter merken kann, hieß einer seiner Lehrmeister John Irving (eben als Taschenbuch bei Diogenes erschienen: "Letzte Nacht in Twisted River").

Aber er verzettelt sich nicht, bleibt immer nah am Kern, will provozieren und ist mit 461 Seiten deutlich kürzer als Irving.

Invasion

T.C. Boyle: Geschichte vieler Invasionen

Es ist eine Geschichte der vielen Invasionen. Der Mensch ist ein brutaler Eindringling, die Ratten auch, aber die können nichts dafür. Zusätzlich hat die staatliche Biologin Alma japanische Gesichtszüge – was ihrem noch verbisseneren Gegenspieler Dave LaJoy zusätzlich unangenehm auffällt. Der ist reich und hat Yacht. Die nennt er "Paladin". Ein heiliger Ritter also.

Beide Naturschutz-Kontrahenten sind Sturschädel. Reden können die nicht miteinander. Der Umgang mit Menschen liegt ihnen nicht.

Und es geht nicht allein um die Ratten: Auf der Nachbarinsel Santa Cruz leben wilde Schweine. Immer dasselbe: Einst hat sie der Mensch dort ausgesetzt, jetzt merkt er, dass das Öko-System kippt, und jetzt will er neuseeländische Jäger einfliegen lassen.

Ein großes Thema, das sich ausbauen lässt: Weil ein überfahrenes Rehlein so sehr rührt, während man das gekaufte Rehschnitzel in die Pfanne legt und trällernd mit Rotwein begießt.
Und wieso bekommt die weiße Ratte als Haustier Bussibussi und die andere, die schwarze Ratte, wird verteufelt? Bei den Tieren geht’s also genauso ungerecht zu. Obwohl am Ende Klapperschlangen eingesetzt werden, befriedigt Boyles Buch als reine Unterhaltung nicht.

Dafür sei ihm Dank.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: ***** von *****

Olga Grjasnowa: Debüt mit "Der Russe ist einer, der Birken liebt"

T.C. Boyle: Geschichte vieler Invasionen

Wir werden sie nicht nerven und fragen, woher sie kommt und wieso sie derart gut Deutsch schreiben kann. Es kann uns egal sein. Die 27-jährige Olga Grjasnowa ist da. In Berlin.

Und in der Literatur.

Aber sie wird es uns sagen. Freiwillig. Denn ihr Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" handelt von einer jungen Frau aus Aserbaidschan, die mit ihren Eltern flüchten musste, weil es im Kaukasus einen längst vergessenen Krieg gab (Bergkarabach); und wenn ein Kind auf der Straße geht, und aus einem Wohnungsfenster fällt eine Frau, deren Blutspritzer die Schuhe des Kindes färbt ... dann muss man weg.

Die Figur der Mascha Kogan ist zumindest im Großen und Ganzen ein Spiegelbild der Autorin. Aserbaidschanerin. Russin. Jüdin. Flüchtling. Deutsche. Die "fremde Heimat" – im konkreten Fall Frankfurt – muss einem vorkommen wie ein "soziales Sibirien".

Vater war Kosmonaut. Wo soll er hier einen Job bekommen? Mutter war Klavierlehrerin und daran gewöhnt, dass man sich quälen muss. Gibt es in Frankfurt Schüler, die sich quälen wollen für die Musik?

Verzweigt

Es ist – auch – eine Liebesgeschichte. Die traumatisierte Mascha Kogan hätte fast ein Zuhause gefunden: bei ihrem Freund. Aber der stirbt nach einer blöden Verletzung beim Fußballspiel.

Nicht einmal mit ihm hat Mascha über ihre Kindheitserlebnisse reden wollen; und schon gar nicht mit ihren anderen Freunden, die alle studieren und wie sie sehr verzweigte Geschichten haben.

Sami zum Beispiel. Geboren in Beirut, der Vater ein Schweizer. Sami wechselt, um zu studieren, zwischen Amerika und Deutschland.

Einmal hat er Appetit auf ein Eis. Die Verkäuferin will Exotik. Und da ist sie wieder, die nervende Frage: Woher er kommt? Aus Frankfurt. Ja, eh, aber... vorher? Na gut: Aus Madagaskar, dort leben alle in Baumhäusern und essen ausschließlich Bananen. Das jetzt sei sein erstes Eis.

Mascha wird nach Israel weiterziehen; und dort hat sie überhaupt keine Chance, sich ihrer Vergangenheit zu entziehen.

Olga Grjasnowa ist besonders eindrucksvoll, wenn ihre Wörter emotionslos Augenblicke aus dem Leben schneiden. Das macht sie fast immer. Deshalb reißt es einen, wenn sie plötzlich eine Menschenschlange mit "... fließt wie Honig" einfängt.

Klingt seltsam. Aber nein, es passt genau: Honig ist süß, und den will jeder haben. Man will schlicht und einfach wieder zu den Menschen gehören.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: **** von *****

Paulus Hochgatterers Reden über Kinder und die Sprache

T.C. Boyle: Geschichte vieler Invasionen

Das ist nicht die Fortsetzung von "Die Süße des Lebens" (2006) und "Das Matratzenhaus" (2010). Psychiater Horn und Kommissar Kovacs konfrontieren uns erst 2013 wieder mit dem Wahnsinn.

In "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" redet Paulus Hochgatterer: von Kindern und Sprache, von seinem Doppelberuf als Kinderpsychiater und Schriftsteller – von der Zumutung, die Literatur manchmal sein muss, wenn Kinder schreien, wenn Kinder verstummen, wenn Kinder tot sind.

Gleichheit

Es sind tatsächlich Reden; und weil er auch vor ganz speziellen Leuten auftrat, gehören auch ein "alliterationsaffiner Anankast" dazu und "anankasmusaversive" Menschen. Aber da sollte man durch.

Dann kommt, was man nicht so rasch vergisst.
Sei es, wenn der 50-Jährige "Krieg der Knöpfe" (1961) als "den überzeugendsten Film, den es über das Kindsein gibt" preist.

Lieblingssatz: "Gleichheit ist, wenn keiner bezahlen muss."
Oder von seiner Lehrerin erzählt, die die mit roten Strichen übersäten Aufsätze seines legasthenischen Mitschülers Hans in den Schaukasten am Gang stellte.
Oder wenn Hochgatterer ein Container-Fundament für unsere Kinder baut.

Vier Seitenteile.
1.) die Usancen pflegen – also Kekse backen, selbst zu den grantigsten Pubertierenden lächelnd "Guten Morgen" sagen.
2.) Details hochhalten – die Kekse verzieren, die eigenen Kenntnisse (auch wenn’s nur die Fortpflanzung der Farne betrifft) artikulieren.
3.) sehr viel erzählen.
4.) zum Konflikt ermutigen und dabei durchaus Emotionen riskieren.

Und unbedingt auf den Deckel des Containers verzichten: damit die Jungen den Sturm spüren ...

Um solches zu hören, würde man sich noch mehr "Anankasmus" (Zwangsstörung) gefallen lassen.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: **** von *****

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