Syrien: Stromschläge für mehr Menschlichkeit

Olga Grjasnowa
Olga Grjasnowas Roman über Flüchtlinge

Dann muss man weg.

Das war in ihrem hochgelobten Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" genauso:

Wenn im Kaukasus im vergessenen Krieg um Bergkarabach die Menschen aus den Fenstern geworfen werden, dann muss man weg.

"Gott ist nicht schüchtern", behauptet Olga Grjasnowa im neuen Buch: Syrien am Beginn der Revolution und im Bürgerkrieg.

Wenn du in der Früh aufwachst und auf deiner Terrasse steht ein Soldat mit einem Scharfschützengewehr und zielt auf Studenten, die auf der Straße gegen Assad protestieren ...

... und wenn die Geheimdienste sogar die Notaufnahmen in den Spitälern überwachen, damit keinem verletzten Demonstranten geholfen wird (widrigenfalls wird der Arzt oder die Krankenschwester erschossen):

Dann muss man weg.

Und ist man weg aus Syrien, über dem Meer, in Italien, Griechenland, Deutschland: Ist das noch eine – Existenz?

Und ab wann darf man wieder zu den Menschen gehören?

Diese Nähe, die Grjasnowa – geboren vor 32 Jahren in Aserbaidschan, lebt in Berlin – zu dieser Welt erzeugt: Sie wirkt intensiver noch als TV-Nachrichten.

Es wird länger in Erinnerung bleiben, dass Hammoudi jahrelang in einem abgedunkelten Wohnzimmer unter Lebensgefahr die Verwundeten operierte.

Er zählte: 917 Menschen starben ihm unter der Hand.

Von Hilfsorganisationen schmuggelte der Arzt Kisten aus der Türkei; und muss feststellen: Da sind gar keine Schmerzmittel drinnen, auch keine Antibiotika, nicht einmal Verbandszeug.

Sondern Kondome.

Schlachthäuser

Hammoudi hatte in Paris Medizin studiert. Er hatte bereits eine Stelle im besten Krankenhaus und war nur auf einen Sprung nach Damaskus gekommen, um Formalitäten mit dem Pass zu erledigen.

Man ließ ihn nicht nach Frankreich zurück. "Der Sicherheitsdienst hat Bedenken." Punkt. Erledigt.

Er kam zu Beginn der Demonstrationen für die Freiheit ... an denen die zweite Hauptperson des Romans mitmarschiert: Amal – Schauspielerin, Star einer Fernsehseifenoper. Ihr Vater muss oft Beamte bestechen, damit sie nicht verhaftet wird.

Folter und Hinrichtungen in den Polizeigefängnissen bzw. unterirdischen "Schlachthäusern" des Assad-Regimes werden den Lesern nicht erspart bleiben.

An die Wand gestellte Kinder werden nicht erspart bleiben.

Es gibt kaum Eigenschaftswörter in dem Roman. Sie kommen, beim Verdauen im Kopf, automatisch dazu.

Olga Grjasnowas Wörter schneiden Augenblicke aus dem Leben in Syrien und auf der Flucht. Sie schreibt scheinbar emotionslos. Genau das macht "Gott ist nicht schüchtern" elektrisierend. Es sind Stromstöße für die Menschlichkeit.

"Gott ist groß!", schreien Menschen auf der Flucht, bevor sie von der Armee (oder dem "Islamischen Staat") erschossen werden.

Ein junger Soldat denkt: Was für eine Lüge.

Olga Grjasnowa: „Gott ist nicht schüchtern“
Aufbau Verlag.
309 Seiten.
22,70 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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