"steirischer herbst": Apokalyptische Szenarien wurden Realität

Der steirische herbst mit dem Motto "Back to the Future" ist am Freitag in der Grazer Helmut-List-Halle eröffnet worden. Intendantin Veronica Kaup-Hasler verwies in ihrer Eröffnungsrede darauf, dass "futuristische Filme die heutige Lebensrealität in vielen Aspekten erschreckend genau treffen". Szenen wie die momentane Flüchtlingsbewegung wäre vor einigen Jahrzehnten "realitätsfern" erschienen.
Anleihen bei Film
Das diesjährige Motto sei eine "spielerische Anleihe an einen Filmtitel", weil sich hier etwas manifestiere, was in der Kunst schon jeher Thema war: "Die Erkenntnis, dass die Zukunft ohne eine profunde Analyse von Vergangenheit und Gegenwart gefährlich und zum Scheitern verurteilt ist." Viele einstige Visionen aus futuristischen Filmen seien mittlerweile "Lebensrealität" und hätten eine "reale Entsprechung in unserem Alltag", formulierte die Intendantin. Als Beispiele führte sie die Beschleunigung aller Lebensbereiche und die gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch Gewalt und Radikalisierungen aller Art gekennzeichnet seien, an.
Täglich würden wir mit diesen Bildern konfrontiert werden: "Flüchtlingsbewegungen enormen Ausmaßes, wie wir sie jetzt in Europa erfahren, Menschen, die vor Kriegen oder unhaltbaren Lebensbedingungen fliehen müssen, wenn sie überleben wollen. Die zunehmend klaffende Schere zwischen Arm und Reich oder auch Szenarien globaler Umweltkatastrophen, die uns in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts noch realitätsfern und übertrieben erschienen sind."
Keine einfachen Lösungen
Einfache Lösungen gäbe es dafür keine: "Wer etwa meint, dass das Errichten von Zäunen, die Perfektionierung der Festung Europa, das Verharren im vermeintlich Eigenem liegen, hat sich weder mit Geschichte auseinandergesetzt noch mit zukunftsfähigen Visionen", betonte Kaup-Hasler. Gemeinsam sei vielen Zukunfts-Fantasien der Zeitsprung einzelner Menschen, die aus der Zukunft zurückkehren, um hier etwas zu reparieren und die Weichen neu zu stellen. "Wer also vorausschauen und -denken, sich gewissermaßen zukunftskompatibel machen und gleichzeitig das Erbe nicht zu einem sentimentalen Dispositiv verkommen lassen will, muss das Vergangene neu entdecken, das Alte genau studieren, sichten und kritisch befragen", brachte es die "herbst"-Intendantin auf den Punkt.
INFO: "steirischer herbst 2015" von 25.9. - 18.10.
www.steirischerherbst.at
Gegenwart ist die Zukunft von gestern. Und Zukunft ist meist, wenn es bald anders kommt. Aber kann es auch Archive der Zukunft geben? Und wie gehen wir mit unserem Erbe um?
Um Fragen wie diese kreist der steirische herbst (25. 9.–18. 10.), der am Freitag mit der Uraufführung eines Experiments zeitgenössischen Musiktheaters beginnt: "Specter of the Gardenia oder Der Tag wird kommen". Das Avantgardefestival – diesmal mit dem Leitmotiv "Back to the Future – Relikte, Spuren und andere Hinterlassenschaften" – hat sein Hauptquartier heuer im GrazMuseum, wo das italienische Architekturkollektiv "orizzontale" eine Art Raumstation installiert. Wo die Ausstellung "Hall of Half-Life" – eine Beschäftigung mit der Halbwertszeit, kuratiert von der Neuseeländerin Tessa Giblin – stattfindet.
Ein Höhepunkt ist das Gastspiel des Berliner Theaterkollektivs Rimini Protokoll mit " Adolf Hitler. Mein Kampf" (1. bis 3. 10) im Schauspielhaus Graz.
Da stellt sich die Frage: Was tun mit dem Buch, das zwischen 1925 und 1945 eine Auflage von 12,5 Millionen hatte, und bei dem heuer das Urheberrecht erlischt? Soll es weiter verboten oder eine Neuauflage zugelassen werden? Ist es, wie immer wieder behauptet wird, unlesbar, schlecht geschrieben, verführerisch gefährlich?
Tabuzone
Die Kommentare von Rimini Protokoll zu Hitlers Hirnvernebelungsschwarte sind erstaunlich unterhaltsam.
Theater, so Regisseurin Helgard Haug, kann den "Aufenthalt in einer Tabuzone zum Erlebnis machen".
Auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern "Experten des Alltags": Laiendarsteller, in deren Leben Hitlers Hass-Schrift eine Rolle gespielt hat.
Zuspruch aus der Neonazi-Szene befürchtet Haug allerdings nicht: "Wir reflektieren den Text natürlich stark. Wir ordnen ihn ein und untersuchen ihn. Es ist kein unreflektiertes Vortragen des Textes. Daher ist das auch nicht anziehend für Neonazis. Unserer Erfahrung nach ist der Text nicht relevant für die Neonazis. Er wird nicht wirklich gelesen. Dafür ist er zu alt, zu kompliziert und zu weit weg."
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