Start der Wiener Festwochen: Protest und kollektives Herzpumpern
Am Anfang war der Pfiff. Die Wiener Festwochen wollten unter ihrem neuen Intendanten Christophe Slagmuylder ein Zeichen setzen – und setzten über die Donau. In „Transdanubien“ also begann am Samstag um Punkt 16 Uhr mit einem Pfiff das diesjährige Festival. Der Akt sollte, wie man betonte, keine kolonialistische Geste sein. Irgendwo muss man beginnen. Warum nicht in der Donaustadt, konkret im Alfred-Klinkan-Hof, 1973 bis 1975 errichtet?
Die deutsche, in Wien lebende Künstlerin Anna Witt hatte zuvor alle Bewohner kontaktiert, um sie für ihre Mitmachaktion „Beat House Donaustadt“ zu gewinnen. Von den mehr als 1000 Menschen in 533 Wohnungen erklärten sich schließlich 51 bereit, ihr Herzpumpern aufzeichnen zu lassen. Auf Anna Witts Pfiff hin spielten sie bei offenen Fenstern die Töne über ihre Verstärkeranlagen ab. So verbanden sich die Herzschläge zu einem Wummern. Eine Minderheit, dem Gedanken der Gemeinschaft und Solidarität verpflichtet, dominierte über die Mehrheit, die nicht ganz verstand, was da vor sich ging. Eine ältere Dame erklärte telefonierend: „Wird wieder Geld gekostet haben.“
Witt hat „Beat House“ schon einmal realisiert. Als Lebenszeichen in einem sterbenden Industrierevier mag die Sound-Installation voll aufgehen. Aber hier, im Gemeindebau, wo die Zufriedenheit der Bewohner, wie man betont, hoch ist? Die Situation mutete etwas bizarr an: Von den Balkonen gafften Menschen auf die Festwochenbesucher, die sich zum Teil ins Gras gelegt hatten und zu den Menschen auf den Balkonen gafften. Man war sich fremd und blieb es.
Bitterer Beigeschmack
Um 16.16 Uhr kam es zu einem wohltuend subversiven Akt: Jemand hielt mit Falcos „Vienna Calling“ gegen das diffuse Wummern. Aber nur eine gute Minute lang: Laut APA machten sich „die bereitstehenden Polizisten (...) demonstrativ auf den Weg zur betreffenden Stiege, um den jungen Mann zu belehren“. Mit diesem Eingriff, dem der Innenminister möglicherweise Beifall gezollt hätte, bekam die Installation einen bitteren Beigeschmack. Denn auch Gegenstimmen sollten in einer Demokratie das Recht haben, gehört zu werden. Selbst wenn manche sie als Störenfriede empfinden.
Um 16.20 setzte schlagartig der kollektive Herzinfarkt ein. Die Aktion war zu Ende. Und die Kulturschlachtenbummler machten sich auf den Weg zur Eishalle, die den Namen des Festwochen-Sponsors Erste Bank trägt.
Empfangen wurde man von einer großen, schwarzen Flagge. Sie würde, so das Programmheft, fünf Stunden lang von mehreren Performern ununterbrochen in Bewegung gehalten. Ula Sickle wollte mit der „durativen Installation“ ein „Zeichen des gemeinsamen Widerstands“ setzen. Die Uraufführung von „Relay“ fand im Oktober 2018 in Brüssel statt. Wogegen Sickle in Wien protestierte, blieb unklar: den Rechtsruck, die Regierung, den Kapitalismus, die Erste Bank oder alles zusammen?
Slagmuylder hatte in der und rund um die Arena ein buntes Programm mit eher kläglich besuchter „Eisdisco“ und vielen Widerstandsparolen zusammengestellt; etliche Performances fanden parallel statt. Sarah Vanhee untersuchte laut Ankündigung auf einem Brachland mit Donaustädtern das Grundrecht zu schreien, Bouchra Ouizguen ließ marokkanische und österreichische Frauen in schwarzen Gewändern und weißen Kopftüchern ein Ritual ausführen, das Mitmenschlichkeit in Erinnerung rufen sollte.
Der mit Abstand interessante Beitrag kam von Mette Edvardsen mit ihrem Langzeitprojekt „Time has fallen asleep in the afternoon sun-shine“. Dieser Satz stammt aus dem mit Oskar Werner verfilmten Buch „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury aus 1953: Weil der autoritäre Staat das Lesen verboten hat und alle Bücher verbrennen lässt, ziehen sich Menschen in die Wälder zurück, um dort die Werke der Weltliteratur auswendig zu lernen. In Wien gibt es zwölf „lebende Bücher“, die man für eine halbe Stunde lang „buchen“ kann, darunter „Orlando“ von Virginia Woolf und „Paloma“ von Friederike Mayröcker.
Der Autor dieser Zeilen ließ sich „Die Baugrube“ von Andrej Platonow (natürlich nur die ersten Seiten) vortragen. Und er war fasziniert. Denn Performancekünstlerin Andrea Maurer, die sich schon einmal mit diesem in der UdSSR verbotenen Roman auseinandergesetzt hat, brillierte geradezu. Gebannt hört man ihrem Vortrag zu – und man könnte stundenlang weiter zuhören. Große Empfehlung! (Von heute bis 18. Mai in der Hauptbücherei am Gürtel).
Als Höhepunkt war ein „meisterhafter Theatermarathon“ angekündigt: Mariano Pensotti erzählt den Aufstieg und Fall der geschlossenen Stadt Diamante als Simultandrama. Das Setting erinnert an Lars von Triers „Dogville“ mit aufgemaltem Grundriss in einer Turnhalle: Mariana Tirantte baute ein weitläufiges Dorf mit zehn Häusern, durch deren Fensterfronten man das Geschehen im Inneren verfolgen kann.
Geschlossene Stadt
Jedem ist selbst überlassen, wie er die Puzzleteile – im ersten Teil sind es elf, im zweiten neun, im dritten sieben – zusammenfügt. Damit alle alles sehen können, wird jede der Szenen, exakt acht Minuten lang, dementsprechend oft wiederholt. Dieses Konzept hat gravierende Nachteile. Denn Pensotti überfrachtet mit Infos über Parallelentwicklungen. Vieles muss man mehrfach lesen – und man kommt kaum zum Schauen. Macht nichts, stellt man fest. Denn das Spiel ist oft nur Illustration oder überflüssig.
Etliche Szenen wären in einer Telenovela mit einem Schwenk erledigt. In „Diamante“ allerdings müssen sie aufgrund des starren, sehr komplexen Ablaufplans acht Minuten dauern. Das lähmt mit der Dauer, auch wenn es auf der Kommentar- und Reflexionsebene etliche luzide Gedanken zu lesen gibt. Immerhin ein Spektakel.
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