Ein von Danielle Spera herausgegebener, lesenswerter Band beleuchtet wissenschaftlich und in persönlichen Erzählungen die Geschichte jüdischen Lebens in der niederösterreichischen Region.
Die Weltstadt, die Wien an der Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert war, dieses kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche Zentrum von Rang, erstreckte sich bis auf den Semmering und war ohne diesen eigentlich nicht zu denken. Dorthin nämlich, in die idyllische Landschaft und die gute Luft, fuhren die Dichter und Denker, die Unternehmer und die Aussteiger von damals zur Sommerfrische und zum Skifahren. Dort wurde geschrieben und gemalt und gelebt und genossen und aufgewachsen.
Diese für Österreich bis heute nachhallende Jahrhundertwende war wesentlich geprägt von jüdischen Menschen, von Sigmund Freud bis Arthur Schnitzler, von Gustav Mahler bis Theodor Herzl, von Ludwig Wittgenstein bis Berta Zuckerkandl. Für Wien ist das umfassend erforscht und beschrieben. Nicht jedoch für den Semmering – und diese Lücke wurde nun geschlossen: Das von Danielle Spera herausgegebene Buch „Stammgäste“ (Amalthea Verlag) beschäftigt sich mit den vielfältigen Facetten jüdischen Lebens am Semmering.
„Dieses Buch hat gefehlt“, sagte Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner am Donnerstagabend bei der Präsentation des von ihr initiierten Bandes im Palais Niederösterreich.
In vielfältigen Beiträgen wird eine Geschichte der großen Namen, der unverkennbaren Bauten, eines Ortes mit einer einzigartigen Atmosphäre, eng verbunden mit der Errichtung der Eisenbahnlinie – und einer historischen Katastrophe erzählt. Der Semmering ist bis heute ein Ort, der ersichtlich macht, wie stark die Vertreibung, Enteignung und Ermordung der jüdischen Österreicherinnen und Österreicher auch dem Land selbst geschadet hat. Mit dem Zweiten Weltkrieg verlor die Region rasant an Bedeutung, Investitionen und auch das touristische Interesse blieben zunehmend aus, die Hotels kämpften, und die bis heute von einer besonderen Stimmung geprägte Region verfiel in den Tiefschlaf.
Zur Jahrhundertwende aber blühte hier bewegtes Leben. Das Buch bettet wissenschaftliche Expertise und persönliche Erzählungen, Familiengeschichten und -fotos in die große Historie des Ortes ein.
Georg Markus schreibt über seine Kindheit im „Paradies“ mit den Kindern von Maxi Böhm, Anita Pollak über die Sommerfrischen mit ihrer Familie, ebenso der jüngst verstorbene Gründer der KURIER freizeit, Michael Horowitz: „Um im Panhans oder im Südbahnhotel zu wohnen, war das Geld nicht da“, sagte er im Gespräch mit Spera. „Unsere Welt war beim Bauern Stickler, nicht auf der Terrasse des Panhans.“
Überhaupt: Die Hotels, vom Panhans bis zum Südbahnhotel. Den „stummen Zeugen dieser prachtvollen Ära“ widmet Theresa Absolon in dem von Agnes Meisinger redaktionell betreuten Buch ein Kapitel. In diesen und den Pensionen, Zimmern, Villen spielte sich jüdisches Leben ab, es war wie in Wien mal strenger, mal lockerer, es war ein Ort, an dem auch die Frauenbewegung früh Handlungsräume aufzeigte, wie Elisa Heinrich schreibt. Tracht war am Semmering – wie heute – Kleidung und Verkleidung für die Städter.
Zuerst habe sie sich gedacht: „Nicht noch ein Semmering-Buch“, sagte Spera bei der Präsentation. Doch das jüdische Leben dort zu beleuchten, sei eine wunderbare Aufgabe gewesen – denn dies war bisher „ein Vakuum“ in der Forschung. „Der Semmering ist eine wunderbare Region, die aber ohne den jüdischen Beitrag nicht zu der Region geworden wäre, die sie dann war.“
Das Land will diese Region – für Mikl-Leitner mit der Wachau eine der schönsten überhaupt – nun wachküssen. „Das hat sich der Semmering verdient“, sagt Spera. Warum, kann man in dem Buch nachlesen.
Kommentare