Die Mutter lehrte ihn die Höflichkeitsform. Er sollte keinesfalls „schlampig“ wie die anderen „Türkenkinder“ wirken. Und so siezte er Vater und Mutter und manchmal sogar das Marmeladenglas auf dem Tisch. Auch deshalb hielten ihn manche im Hort für einen Spinner. Er trug’s mit Fassung und hielt sich an den Rat des Vaters, der sagte: „Wenn du aus dem Haus gehst, zieh die Schuhbänder fest und streich die Hose an den Knien glatt.“
Haltung, ja, Haltung.
Als der namenlose Erzähler, ein Schriftsteller aus Kiel, eines frühen Morgens vom Tod seines Vaters in der Türkei erfährt, droht er, die Fassung zu verlieren. Die Mutter heult verzweifelt ins Telefon und er denkt: „Ich werde als Nächstes sterben.“ Er ist jetzt „Sohn ohne Vater“, wie der neue Roman des deutschen Schriftstellers Feridun Zaimoglu heißt.
Zaimoglu beschreibt darin den Abschied vom Vater, von der Kindheit und immer wieder auch die Suche nach den eigenen Wurzeln als Kind türkischer Gastarbeiter im Deutschland der 1960er-Jahre. Berührend ist das, wie Abschiede eben sind, aber darüber hinaus ist hier noch so viel mehr. Dieses liebevolle, facettenreiche Vater-Porträt hat etwas Traumhaftes, Rauschhaftes und auch durchaus Komisches.
Denn der Erinnerung ist bekanntlich nicht zu trauen, schon gar nicht jener an die eigene Kindheit.
„Auf einen Schlag alt geworden“, überlegt der Erzähler, wie er in die Türkei kommt, um sich vom Vater zu verabschieden. Weil Fliegen nicht infrage kommt – er leidet unter Flugangst – bittet er Freunde, ihn im Wohnmobil mitzunehmen. Die Reise geht über Linz, das ungarische Szeged bis in die Kleinstadt Edremit in der Türkei.
Schlaglichter einer Reise – in Linz stehen die Hotelangestellten meistens rauchend vor der Tür, sind aber ansonsten sehr hilfsbereit – gesellen sich zu den Vater-Erinnerungen, die diesen Begräbnis-Roadtrip vorrangig prägen. Von Beginn an begleiten schräge Anekdoten die Trauer – etwa die Mitbringselliste für die Mutter: Nagellack gegen Fußpilz, Chanel-Parfum in großen Gebinden und gedörrter Ochsenpenis für den Rehpinscher.
Ansehnliche Koteletten
Von den Schrulligkeiten der bereisten Länder, vor allem aber Deutschlands und der Türkei, nimmt Zaimoglu beiläufig und freundlich-ironisch Notiz. Vor allem aber erinnert er sich an den stets aufgeräumten und gemütstiefen Vater, der noch als Siebzigjähriger mit seinen ansehnlichen Koteletten Aufsehen bei den Damen erregte; an diesen starken, ungewöhnlichen Mann, der in Deutschland auf keinen Fall als typischer Gastarbeiter wahrgenommen werden wollte. Der eine schwarze Baskenmütze trug, die er gegen das Knie schlug und hineinblies, bevor er sie auf den Kopf legte, wie die Mutter gern erzählte, um damit zu bedeuten, dass sie keinen „herkömmlichen“ Mann von „volkstümlicher Schlichtheit“ geheiratet hatte.
Man trauert mit Mutter und Sohn um den Verstorbenen, der einem im Lauf der Geschichte so nah wird; man ist verblüfft und berührt ob der Schönheit eines Satzes, den die nun einsame Mutter wie nebenbei sagt: „Es kommt der Abend wie ein zitternder Kunde zu mir.“
Und weil der großartige Erzähler Zaimoglu weiß, wie eng es zwischen den Extremen im Gefühlsspektrum werden kann und der Tod nicht ohne Humor auskommt, schenkt er uns Sätze wie diese: „Ich will vor Kummer ihre Füße küssen, es ist ihr nicht recht.“