Filmregisseur Joachim Trier: "Zärtlichkeit ist der neue Punk"

Stellan Skarsgård und Elle Fanning.
Regisseur Joachim Trier über sein Generationenporträt „Sentimental Value“ mit Schauspiel-Star Stellan Skarsgård und Renate Reinsve.

Die alte Kaffeetasse der Großmutter mag vielleicht scheußlich aussehen, aber dem Enkelkind bedeutet sie sehr viel. Sie hat sentimentalen Wert, auf gut Englisch: „Sentimental Value“. Regisseur Joachim Trier nannte seinen neuen Film „Sentimental Value“ (derzeit im Kino) und gewann damit heuer in Cannes den Großen Preis der Jury.

„Ich bin ein großer Musikfan“, erzählt der norwegische Filmemacher im Pressegespräch und denkt über die Bedeutung seines Filmtitels nach: „,Sentimental Value‘ erinnert an einen alten, melancholischen Jazz-Standard wie beispielsweise ein Song von Cole Porter. Und es suggeriert das Gefühl des Entgleitens.“

Viele Dinge können entgleiten, findet Trier: „Zeit entgleitet. Die Möglichkeit, sich mit seinen Eltern zu versöhnen. Oder eine lange Karriere als Filmemacher zu haben. Kinder werden größer und entgleiten ... “ An dieser Stelle muss Trier ein bisschen lachen, damit es nicht gar zu dramatisch wird. Aber tatsächlich ließe sich die Liste endlos fortsetzen.

US-ENTERTAINMENT-NEON-FILM

Regisseur Joachim Trier: „Zärtlichkeit ist der neue Punk.“

„Sentimental Value“ erzählt vom (Ent-)Gleiten der Zeit und davon, wie Generationen kommen und gehen. Was sie verbindet, sind nicht nur die familiären Bande, sondern auch ein wunderschönes, altes Holzhaus mit Dachgiebel und roten Fensterrahmen. Rissen laufen durch die Zimmerwände, als wollten sie den inneren Zusammenbruch seiner Bewohner zeigen. Seit über hundert Jahren steht es mitten in Oslo und ist der Sitz einer (unglücklichen) Familie.

Der alte Patriarch

Nun ist das Haus „leicht“ geworden, wie eine Stimme aus dem Off erzählt, denn die letzte Bewohnerin ist gestorben. Ihre beiden erwachsenen Töchter kehren ins Haus zurück, um Abschied zu nehmen und auszuräumen. Und plötzlich steht ihr Vater vor der Tür, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat, um seine Karriere als erfolgreicher Filmemacher zu verfolgen.

Er heißt Gustav Borg und ist mittlerweile in einem Alter, wo das filmische Lebenswerk in Retrospektiven auf Festivals gezeigt wird. Einen neuen Film gibt es schon lange nicht mehr, doch nun hat er ein Projekt in Planung. Seine älteste Tochter, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin namens Nora, soll die Hauptrolle übernehmen.

Doch die denkt gar nicht daran. Ihre Wut auf den egoistischen Alten ist einfach zu groß. Während die jüngere Tochter Agnes mit dem Vater Frieden geschlossen hat, befindet sich die depressive Nora in einem Zustand großer Ablehnung.

Joachim Trier hat – wie immer – ein exzellentes Schauspiel-Ensemble um sich versammelt. Renate Reinsve, der Trier mit seinem umwerfenden Frauenporträt „Der schlimmste Mensch der Welt“ zu internationalem Durchbruch verholfen hat, spielt die instabile Nora. Als alter Patriarch mit Alkoholproblem steht ihr der schwedische Schauspiel-Star Stellan Skarsgård gegenüber. Mit zärtlicher Regiehand entwirrt Joachim Trier die schmerzhaften Familienbande und legt lindernd verletzte Gefühle frei.

Der neue Punk

Mit dem Satz „Zärtlichkeit ist der neue Punk“ hat Joachim Trier in Cannes für Aufmerksamkeit gesorgt. „Ich bin in den 90er-Jahren aufgewachsen“, sagt Trier, mittlerweile 51-jährig: „Ich war Skater, Punk und politisch aktiv. Ich finde immer noch, dass Kunst laut und stark auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen soll. Gleichzeitig aber frage ich mich, was heute eine radikale Position im Kino sein kann. Und ich glaube, in Zeiten der Polarisierung und Aggression brauchen wir Zärtlichkeit, Empathie und Hoffnung, und die Fähigkeit, den anderen zu verstehen.“

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Schwesternliebe: Renate Reinsve (li.) und Inga Ibsdotter Lilleaas in "Sentimental Value".

Sein „Modell der Zärtlichkeit“ hat Joachim Trier – immer in Zusammenarbeit mit seinem Langzeitdrehbuchautor Eskil Vogt – nun anhand seiner Familiengeschichte in „Sentimental Value “ gebaut. Er greift zurück auf Eltern und Großeltern, um Verständnis zwischen den Generationen zu schaffen. So ging beispielsweise Gustav Borgs Mutter während des Zweiten Weltkriegs in den Widerstand und wurde dafür zwei Jahre lang im Gefängnis gefoltert. Ihr späterer Selbstmord warf einen bleibenden Schatten über ihren Sohn Gustav, der zwar als Filmemacher reüssierte, aber im Umgang mit seiner Frau und seinen Töchtern als polternder Patriarch versagt: „Ich habe große Anteilnahme für Gustav und will ihn keineswegs vorführen“, versichert Trier: „Er entstammt einer älteren Generation, die nach dem Krieg geboren wurde und an Traumata litt. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der ebenfalls im Widerstand war und nie über seine Erlebnisse sprechen konnte. Er war in seiner Unfähigkeit zur Kommunikation gefangen.“

Versöhnung

Glücklicherweise habe der nette Stellan Skarsgård diese potenziell unsympathische Rolle übernommen und ihr Tiefgang gegeben, so Trier: „Ich interessiere mich für humanistisches Kino. Und ich glaube, dass der französische Filmemacher Jean Renoir recht hatte, als er meinte: Jeder hat seine Gründe.“

Und so kommt es, dass Joachim Trier die Bäche der Tränen in ein Bad der Versöhnung zusammenfließen lässt: „Ich wollte anhand dieser Familienchronik die Wunde und den Kummer, den viele Leute verspüren, erzählen. Und ich habe versucht, eine zärtliche Geschichte über Versöhnung zu finden – ohne falsches Happy End.“

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