Schwarz, weiß und radikal

Schwarz, weiß und radikal
Die verstörenden Fotografien von Mario Giacomelli im Wiener Westlicht - bis 9.8. 2015

Er benannte seine Fotoserien gern nach Gedichten, und er sah seine Bilder oft auch als solche: Wer in den Werken von Mario Giacomelli (1925 – 2000), die noch bis 9. August im Wiener Fotomuseum Westlicht gezeigt werden, nach journalistischen Dokumentationen sucht, wird auf Granit beißen.

Die Fotografien des Italieners, der 1964 vom MoMA-Kurator John Szarkowski mit einer Schau international „geadelt“ wurde, besitzen eine Härte und Schwere, die mitunter schmerzhaft spürbar ist – nicht bloß wegen der Motive, die die Bilder zeigen, sondern auch wegen der Ausführung der Fotografien.

Giacomelli kultivierte einen Stil extremer Kontraste: Manche Bilder wirken, als hätte man sie mehrfach durch ein antiquiertes Kopiergerät gejagt, es gibt kaum Stufen zwischen schwarzen und weißen Flächen, die Abzüge wirken oft wie Nachbilder, wie Spuren eines eingebrannten Eindrucks. Selten kommt Fotografie so archaisch, so grob geschnitzt daher, die Wucht der Bilder verträgt sich so gar nicht mit der Feingliedrigkeit des Apparats, dem sie entsprangen.

Drastische Motive

Die Motivwahl des Fotografen, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und praktisch sein ganzes Leben im Städtchen Senigallia an der Adria nahe Ancona verbrachte, verstärkt die Schwere des Stils noch: Giacomelli bildete das zerfurchte Gesicht der eigenen Mutter ab, die hohlen Gesichter der Menschen aus dem Altersheim, in dem diese lange als Wäscherin ihr Geld verdiente, und schließlich die Furchen in der Landschaft rings um Senigallia, aufgenommen aus einem Flugzeug. Die Serie „Io non ho mani che mi accarezzino il volto (Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln)“ von 1961 – ’63, die Priesterseminaristen in ihrer Freizeit zeigt, gehört noch zu den leichtfüßigsten – und bekanntesten – von Giacomellis Serien.

Es ist eine verstörende Ausstellung, die das Kuratorenduo Rebekka Reuter und Fabian Knierim mit rund 100 Bildern aus der hauseigenen „Sammlung Ostlicht“ zusammengestellt hat: Giacomellis Bilder, die oft auch surrealistisch anmutende Konstellationen von Menschen und Objekten zeigen, unterlaufen nicht nur eingeübte Vorstellungen davon, was ein „schönes Foto“ ausmacht, sie unterlaufen auch die Fotografie selbst. Giacomelli misstraute Oberflächlichkeiten und versuchte, in tiefere Bedeutungsebenen vorzudringen, ohne jedoch die Fotografie selbst aufzugeben: „Fotografien sind Spiegel, mit denen ich in mein Inneres schaue“, sagte er. Zwischen den Abbildungs-Versprechen des Apparats und den reflexiven Absichten des Fotografen herrscht eine Spannung, die den Bildern bis heute innewohnt – und sie ebenso unheimlich wie außergewöhnlich macht.

Website und Archiv des Fotografen: www.mariogiacomelli.it

Kommentare