Schrecklich nett
Wobei: Klar, irgendwo muss das blutüberströmte Gewand ja gewaschen werden, das gemeinhin beim antiken Theater mitgemeint ist. Schließlich geht es hier um jene doch ziemlich brutalen Auftaktschritte, die wir Menschen einst in Richtung Durchzivilisierung gemacht haben.
Und, kein Wunder, schon damals war die Familie das Hauptproblem. Die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern hatten aber mehr Pfeffer: Da ging es nicht um Bildschirmzeit am Handy und Brokkoli-Aufessen, sondern gleich einmal um Muttermord, wie der brave Theatergeher beim beflissenen Voraufführungsdurchblättern der griechisch-historischen Talking Points nachliest (klar hat man das eh gewusst, nur gerade nicht präsent gehabt!).
Orest hat, es variiert ein bisschen, hier seine Mutter Klytaimnestra mit der Axt erschlagen (da hilft das Ökoprogramm auf der Waschmaschine auch nicht mehr), weil diese wiederum mit Aigisthos, dem Mörder von Agamemnon, ihres Ex, lebte.
Zusatzwissen für 1000: Agamemnon war der, der in Troja siegte und dessen Rückkehr die Demokratie in Griechenland auch nicht leichter machte.
Ebenfalls im Personal: Elektra und die Negativ-Influencerin Kassandra.
Stoffbergwerk
Diesen Kontext erklärt also Stemann vorab, und auch, dass er hier gleich vier Stücke – „Agamemnon“ von Aischylos, Sophokles’ „Elektra“, Aischylos’ „Eumeniden“ und „Orestes“ von Euripides – aneinanderreihen werde.
Ähnlich umfangreich wie das antike Stoffbergwerk, aus dem in Folge die Motive herausgeschlagen wurden, sollte dann auch die Bild- und Szeneriensprache werden: In einem abwechslungsreichen, für vier Stunden flotten Abend behandelte Stemann den antiken Stoff und auch die Aufführung des Stoffes selbst mit heutigen Mitteln.
Wer sich schon mal gefragt hat, was passiert, wenn eine entscheidende Familienmordszene durchs Handy gestreamt wird und die handelnden Figuren durch Filtersoftware live in Comicsfiguren verwandelt werden – hier findet sich die Antwort. Es gibt Songs und einen Talkshowauftritt Kassandras – „Menschen bei Aisch-Berger“, Aischylos, Sie verstehen! Der soeben deklamierte Text wird zur gleichen Zeit ausgedruckt und dieses Ausdrucken auf die Rückwand projiziert. Die Rückwand der Bühne wird nach und nach mit Kriegsmotiven von heute zuplakatiert.
Denn klar, das alles geht uns auch heute an. Viel weiter sind wir jetzt ja nicht gekommen, im Gegenteil, das mit dem Frieden und der Demokratie, das damals so blutig errungen wurde, wird gerade wieder rückabgewickelt.
Moralsicherheit
Das fünfköpfige Ensemble – Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler, Sebastian Rudolph, Sebastian Zimmler, Barbara Nüsse – schlüpft behände in verschiedene Tonalitäten und Rollen und Existenzen. Gegen Ende darf das Publikum seine Moralsicherheit beweisen und drüber befinden, ob Orest für den gut begründeten Muttermord begnadigt werden soll. Dann löst sich der Abend in eine satirische Schlussperformance mit einer lautstark angefressenen Helena – was kann sie dafür, dass alle immer wegen ihr Krieg führen? – auf. Da blinkte einer der Drucker schon im Stand-by-Modus.
Stemann hat, erfolgreich, den übergroßen Stoff kleingeschossen, der Abend ist pathosfrei und gut gelaunt und legt ein bisschen vom verschütteten Bildungsbürgerwissen frei. Aufpassen nur mit dem Erwartungsmanagement, Männer in Togen und antikes Versmaß darf man natürlich nicht erwarten.
Krieg und Frieden, Moral und die Geburt Europas als Kulturwiege werden hier als buntes Spiel von Menschen aufgeführt, die sich überhaupt noch die Zeit nehmen, sich mit dem Zeug auseinanderzusetzen. Da kann man eigentlich schon froh sein.
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