Mick Jagger, mit 78 immer noch schlank wie eine Gazelle, stolziert unaufhörlich von der einen Seite der 55 Meter breiten Bühne zur andern. Die Backing-Band und der neue Schlagzeuger Steve Jordan liefern die solide vorwärtstreibende Basis, über der sich die Gitarristen mit zickigen, knackigen und mal auch schrägen Riffs austoben. Auch die zwei Songs in der Mitte, die Richards singen darf, sind samt den gelegentlich schiefen Tönen, die er durchs Mikro schickt, seit Jahren ein fixer Bestandteil einer Rolling-Stones-Show.
Neu ist die Bühne, die von einem monströsen, abstrakten Gemälde in den Stones-Farben gelb, rot und schwarz dominiert ist. Die vier schlichten LED-Monolithe der vorigen „No Filter“-Tour waren dagegen nicht nur wesentlich eleganter, sondern auch viel effektiver im Sichtbarmachen des Bühnengeschehens für die Fans in den hinteren Stadionbereichen.
Diese neue Bühne schreit Spektakel, erinnert an die Stones-Tourneen in den 80er- und 90er-Jahren - an die aufblasbaren Riesenfiguren und die zirkusreifen Einlangen, die Jagger damals auf und mit ihnen hinlegte. Doch die Zeiten, in denen er auf beweglichen Brücken und am Bühnendach herumturnte, bleiben zum Glück vorbei. Die bei dem Anblick der Bühne entstandene Befürchtung, dass die ikonische Band mit der „Sixty“-Tour wieder dorthin zurückkehrt, wo sich die Show mindestens so wichtig macht, wie die Musik, bewahrheitet sich nicht. Die Stones bleiben auf dem Boden und ihr Sound so erdig und ursprünglich wie in den letzten Dekaden. Die Songs und die Spielfreude dürfen allzeit im Mittelpunkt stehen.
Neben Klassikern wie „Tumbling Dice“ und „Honky Tonk Woman“ gibt es mit „Out Of Time“ gleich im ersten Drittel eine wunderbare Überraschung, denn keiner kann sich erinnern, dass sie den Song je live gespielt haben. Und weil der Moment gerade so schön war, stimmt Jagger ihn nach dem Ende gleich noch ein zweites Mal an.
Der neue, im Lockdown entstandene Song „Living In A Ghost Town“ ist ein Blues-lastiger Leckerbissen mit Mundharmonika-Solo, und „You Can‘t Always Get What You Want“ steigert sich zu einem furiosen Finale.
Beim funkigen „Miss You“, bei dem Jagger wie besessen die Hüften kreist, ist Platz für ein mitreißendes Solo von Bassist Darryl Jones. Und „Midnight Rambler“ wird mit Improvisationen, die zwischen schwermütig dahinstolperndem Blues und wütendem Rock pendeln, auf Mammutlänge ausgedehnt, ohne dass eine Sekunde davon langweilig wird.
All das ist nicht immer perfekt. Gelegentlich ist Richards Gitarre so laut, dass sie alle anderen Instrumente zudeckt. Auch manche Pausen zwischen den Song sind eine Spur zu lang. Aber es ist eine rundum ehrliche Show von einer Band, die es hör- und (nicht nur an Richards Dauer-Grinsen) sichtbar liebt, auf der Bühne zu stehen.
Natürlich kommen zum Schluss noch Hits wie „Sympathy For The Devil“, „Jumping Jack Flash“ und „Satisfaction“. Das ist wieder ein Ritual, das sich in all den Jahren herausgebildet hat. Aber es gibt auch dabei keine Routine, klein glatt gebügeltes Runterspielen von notwendigen Fanfavoriten. Die Rolling Stones füllen ihre Klassiker auch nach 60 Jahren mit einem Leben und einem Drive, den Musiker die 30 und 50 Jahre jünger sind nicht hinkriegen. Sie füllen den riesigen, höchst professionellen Produktions-Rahmen ihrer Show mit dem Sound ein jammenden Blues-Rockband in einem Club. Und das Stadion anstatt mit Perfektion mit Menschlichkeit.
Davon kann man sich überzeugen, wenn die Rolling Stones am 15. Juli im Wiener Praterstadion auftreten.
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