Erinnerung an eine flüchtige Berührung am Oberarm
Das Leben ist ein Hauch, aber es gibt halt nicht mehr.
Kein Klagen dringt aus "Ein ganzes Leben" – aus dieser einfachen (und deshalb komplexesten) Geschichte eines einfachen Mannes:
Etwa zwischen 1898 und 1977 hat er in den Bergen (vielleicht den Bergen Tirols) gelebt, geliebt und sehr hart gearbeitet. Er hätte verzweifeln dürfen.
Wieso hört man von ihm kein Lamentieren?
"Vielleicht", sagt der Autor im KURIER-Gespräch, "hat er sich die Fähigkeit bewahrt, die wenigen blühenden Momente seines Lebens im Rückblick genauso leuchtend zu erinnern, wie sie auch waren." "Offensichtlich", sagt er, "hat er die Gabe, nicht zu verbittern."
Großes Kino
Der Autor: Robert Seethaler aus Wien 10, Jahrgang 1966, lebt in Berlin. Spätestens seit "Der Trafikant" (2012) ist er kein Geheimtipp. Seethaler hatte den 81-jährigen Sigmund Freud mit dem 17-Jährigen Franzl vom Land über Liebe reden lassen.
Bilder, in braunen Dreck getaucht das eine Mal, in kühle Poesie gehüllt das andere.
Immer schnörkellos.
Großes Kino mit wehender Unterhose auf dem Gestapo-Quartier Morzinplatz.
Was bleibt
Der neue Romanheld: Das sind wir, mehr oder weniger. Hoffentlich nicht ganz so gebeutelt wie Andreas Egger, aber es läuft auf das Gleiche heraus. Egger wächst bei einem Großbauern auf, der ihn mit der nassen Haselnussgerte schlägt und ihm Knochen bricht, sodass er hinkt.
Dann eine kurze Berührung der neuen Kellnerin im Gasthaus: eine Stofffalte an seinem Oberarm.
Er wird es nie vergessen.
Das ist ein wesentliches Element dieses Romans (bzw. überhaupt der Menschen am Ende des Weges): Scheinbar banale Kleinigkeiten bleiben im Rückblick neben den dramatischsten Ereignissen stehen.
Marie und er werden ein glückliches Paar; und schwanger wird Marie. Dann die Lawinenkatastrophe. Verzweiflung? Ja, aber es ist SEIN Leben, deshalb muss es wohl gut so sein.
Dann die ersten Bergbahnen für die Touristen, er sprengt Löcher in die Felsen, gräbt Wurzeln aus gefrorenem Boden. Dann der Krieg in Russland.
Der Versuch, im Alter auszubrechen – indem Andreas Egger in den nächsten Ort fährt, wird von ihm als Fehler erkannt: Alles soll bleiben, wie es ist ...
Bei John Williams’ Roman "Stoner" hat man vielleicht geweint. Bei Seethalers "Ein ganzes Leben" wird man traurig nicken: So schnell ist alles vorbei.
Robert Seethaler hat sich nur 250 Seiten genehmigt. Er ist mittendrin in den 79 Lebensjahren. Aber er will sich nicht Platz nehmen, um sentimental zu werden (obwohl man nichts dagegen hätte).
Andreas Egger staunt noch ein letztes Mal über so viel Erlebtes, bevor sein Kopf auf die Tischplatte sinkt.
So ist also unsere Geschichte: sehr luftig; und recht armselig (aber wir nehmen uns nach diesem Buch fest vor, "Kleinigkeiten" zu genießen).
KURIER-Wertung:
INFO: Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“ Verlag Hanser Berlin. 160 Seiten. 18,40 Euro.
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