Richard Flanagan: Sich verlieben und verrecken
Als der wichtigste britische Literaturpreis, der Booker Prize, 2014 an Richard Flanagan aus Tasmanien vergeben wurde, freute sich der 53-Jährige über die 50.000 Pfund (=68.000 €): "Sonst hätte ich in die Minen arbeiten gehen müssen."
Ein (schon in früheren Jahren) gefeierter Autor und dreifacher Familienvater ... im Bergwerk?
"Das ist nichts Besonderes für einen Schriftsteller. Ich habe für den Roman halt zu viel Zeit gebraucht."
Genau zwölf Jahre. Richard Flanagan musste im Dschungel zwischen Bangkok und dem 315 Kilometer entfernten Burma eintauchen, wo sein Vater Anfang der 1940er-Jahre am Bau der "Death Railway" beteiligt gewesen war.
Flanagan sen. war der Gefangene Nummer 335.
Flanagan jun. musste am eigenen Leib spüren, wie man Steine mit Hammer und Meißel von der Strecke schafft.
Er musste mit einem ehemaligen japanischen Aufseher reden, der ein Monster war, genannt "die Eidechse" – was für ein höflicher alter Mann ist er geworden ...
Im Zweiten Weltkrieg wollten die Japaner schnell Soldaten und Waffen nach Burma bringen, um von dort aus einen Angriff auf Indien starten zu können.
200.000 asiatische Sklavenarbeiter wurden als Material eingesetzt und rund 50.000 alliierte Kriegsgefangene (=30.000 Briten, 18.000 Niederländer, 13.000 Australier).
Ein Kriegsverbrechen.
Entkräftet starben an die 90.000 Asiaten sowie 6500 Briten, 2800 Niederländer und 2700 Australier.
Die "Brücke am Kwai" (durch David Leans Film weltberühmt geworden) war ein Teil dieser Todeseisenbahn.
Richard Flanagans "Der schmale Pfad durchs Hinterland" ist die brutalere Ergänzung, Vertiefung.
Der Australier hat eine Sprache gefunden fürs "unbeschreibliche" Verrecken (wobei man nicht weiß, ob der Schlamm vom Monsunregen kommt oder von der Cholera) – und fürs "unbeschreibliche" Verliebtsein.
Untertassen
Er kann seinen Helden, den Chirurgen Dr. Dorrigo Evans, einen Kameraden untersuchen lassen, grau der Eiter, im Hohlraum zwischen den Muskeln ein Stück nacktes Schienbein, das sich zersetzt und abblättert.
Und Flanagan kann von den rührenden Ohrmuscheln einer Frau schreiben, von der jungen Ehefrau von Dorrigo Evans’ Onkels:
Er sieht sie, sie sieht ihn – ihre Pupillen werden groß wie Untertassen – er wundert sich: "Nichts war passiert, und doch war alles anders."
Verrecken und die Liebe wechseln einander an, aufs Traurigste.
Dorrigo Evans geht zur Armee ... Dorrigo Evans behält in Gefangenschaft seine Menschlichkeit ... Der alte Dorrigo Evans wird als Kriegsheld gefeiert.
Man merkt diese ständigen Sprünge gar nicht. Alles gehört zusammen, alles fließt ineinander, bald fließt man selbst mit. Eine außergewöhnliche Leseerfahrung.
"Der schmale Pfad durchs Hinterland" hat denselben Titel wie der Bericht von Matsuo Bashō, über seine Wanderungen im Jahr 1689.
Flanagan verneigt sich damit (trotz allem) vor der japanischen Kultur und der Haiku-Dichtung, mit der man – Zitat Bashō – das Leben kurz umreißen kann:
Nichts als Flöhe und Läuse!
Und nah an meinem Kopfkissen
pisst auch noch ein Pferd!
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