"Nicht vergessen, nicht vergeben"
Mit seinem ungarischen Holocaust-Drama "Son of Saul" (Kinostart: Freitag) sorgte Regisseur László Nemes bereits letztes Jahr in Cannes für Furore; heuer erhielt er dafür den Oscar als bester fremdsprachiger Film. In seinem Langfilm-Debüt nimmt Nemes die Radikal-Perspektive eines in Auschwitz inhaftierten jüdischen Gefangenen namens Saul ein. Dieser ist Teil des aus Häftlingen zusammengesetzten "Sonderkommandos", das gezwungen wurde, den Deutschen bei der Vernichtungsarbeit im Lager zu helfen. Als er unter den Toten seinen Sohn zu erkennen glaubt, riskiert er alles, um ihm ein jüdisches Begräbnis zu ermöglichen.
KURIER:"Son of Saul" wurde bereits letzten Mai in Cannes gezeigt, startet aber erst jetzt in den Kinos. Warum hat das so lange gedauert? László Nemes: Es hat sich einfach lange kein deutschsprachiger Verleiher an "Son of Saul" herangetraut. Es gibt diese sogenannten Holocaust-Filme, konventionelle Dramen, die immer auf der ganz sicheren Seite bleiben. Sie haben ganz bestimmte Geschichten, Codes und Emotionen: Sie sind ihr eigenes Genre, das nach festgelegten Regeln funktioniert. Auf der einen Seite steht das absolut Böse, auf der anderen das sehr menschliche Opfer. Und es gibt all diese beruhigenden und vergewissernden Elemente, so dass man als Zuschauer auf Distanz bleiben und den Blick von Außen behalten kann. Meistens endet es mit dem Überleben des Protagonisten.
Davon unterscheidet sich Ihr Film ganz radikal.
Mir war klar, dass ich diese Geschichte ganz anders erzählen muss. Ich wollte die Herausforderung eines Films, der schwieriger zu machen ist. Wenn man sich eines Themas wie diesem annimmt, hat man eine große Verantwortung. Man muss den Kontext mitberücksichtigen. Und Filmemacher haben bisweilen die Tendenz, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Wir wollten dem einen Film entgegensetzen, den der Zuschauer bis in die Eingeweide wahrnimmt. Mein Film funktioniert nicht auf einer intellektuellen Ebene – und niemand kann sich auf eine sichere Position zurückziehen: Man ist mittendrin. Ich wollte, dass man die Geschichte aus einer sehr individuellen Perspektive erlebt. Vieles spielt sich dabei im Kopf des Zuschauers ab. Denn wenn man alles zeigt und erzählt, bleibt am Ende nichts übrig.
Was war die Motivation, diese Geschichte als Thema Ihres Langfilm-Debüts zu wählen?
Ich stieß vor etwa zehn Jahren auf die Schriften von Sonderkommandoführern und las über den Alltag in den Konzentrationslagern. Es waren Tagebücher, die inmitten der Vernichtungsmaschinerie entstanden. Die Verfasser waren dem Tode geweiht, aber sie haben rebelliert. Das war mein Ausgangspunkt. Erst danach machte ich mir über das Formale und die Handlung Gedanken. Ich wollte etwas ganz Simples – und auf keinen Fall eine "Survivor"-Geschichte. So entstand die Idee mit dem Mann, der den toten Buben begraben will, den er für seinen Sohn hält.
Wieso haben Sie sich auf die Perspektive eines einzelnen Protagonisten beschränkt?
Man sieht dadurch nicht alles, was im Konzentrationslager passiert, und muss als Zuschauer den Kontext selbst rekonstruieren. Es wäre sehr einfach, alles zu zeigen. Aber das würde es abwerten – denn was man sieht, kann man verarbeiten. Wenn man es nur andeutet, hat es eine stärkere Wirkung. Und das ist das zugrunde liegende Konzept dieses Films – dass dieser Horror nicht darstellbar ist. Etwas habe ich erst im Nachhinein verstanden: Der Film benutzt die Vorstellungen, die das Publikum hat. Aber viele dieser Vorstellungen sind falsch, weil sie auf Filmen beruhen.
Zum Beispiel?
Viele wissen nicht, dass nicht alle Insassen der Konzentrationslager abgemagert waren, und dass die Mitglieder der Sonderkommandos sehr wohl bessere Nahrung und Kleidung bekamen. Oder sie wissen nicht, warum die Insassen ganz unterschiedliche Sprachen verwenden und warum nicht überall Hakenkreuzflaggen hängen. Der Film benutzt unbewusst diese Annahmen, und indem er sie unterwandert, etabliert er neue Referenzen.
Ein wichtiger Teil der eingeschränkten Perspektive ist die Tonspur. Anstatt den Horror zu sehen, hört man ihn.
Da das Blickfeld so eingeschränkt ist, suggeriert der Ton, was nicht zu sehen ist. Und nicht immer ist die Quelle klar, aus der die Geräusche kommen. Befehle, Gespräche, Flüstern, Züge, Maschinen ... oft versteht man nicht, was genau zu hören ist. Aber genau diese Wahrnehmung und deren Grenzen wollten wir kreieren. Man weiß nie, was im nächsten Moment oder um die nächste Ecke passieren wird. Es ist eine Mischung aus Chaos und Organisation, genauso wie in den Lagern. Und das wollte ich erfahrbar machen – die Enge, das Fehlen von Informationen. Und der Ton macht auch dem Zuschauer klar, dass mehr passiert, als er sehen kann.
Sie haben von Holocaust-Filmen als Konvention gesprochen. Wie stehen Sie zu den Dokumentarfilmen, etwa denen von Claude Lanzmann?
Das ist etwas völlig anderes. Ich werde mich nie daran gewöhnen, Claude Lanzmanns "Shoah" zu sehen, auch wenn ich es unzählige Male getan habe. Es erschüttert mich immer wieder. Es macht mich wütend. Ich kann gar nicht anders. Ich habe nur noch einen Bruchteil meiner Familie, weil die meisten ermordet wurden. Das ist ein Trauma, das sich über Generationen zieht. Ich habe nie verstanden, warum sie ermordet wurden, bis heute nicht. Deshalb habe ich auch meinen Film gemacht. Ich vergesse nicht und ich vergebe nicht.
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