Turrini: "Sonst bin ich ja tot, noch bevor ich tot bin"
KURIER: Vor einem Jahr haben Sie eine Art Lebensbilanz gezogen – mit der Revue "C’est la vie". Warum eigentlich?
Peter Turrini: Ich hatte Angst vor den Feierlichkeiten zu meinem 70. Geburtstag. Das Stück entstand aus einem Schutzbedürfnis: Ich beschreibe mich lieber selber, bevor die anderen mein Leben bilanzieren. In meinem Text steht: "Das Leben ist eine lustige Katastrophe." Und damit ist eigentlich alles gesagt.
"C"est la vie" endet mit dem Tod. War das eine düstere Vorahnung? Denn auch Ihr Leben wäre beinahe zu Ende gewesen: Sie hatten im September eine schwere Herzoperation.
Ich habe eine seltsame Art, mit Bedrohungen umzugehen: Ich dramatisiere sie. In "C’est la vie" habe ich mir verschiedene Tode ausgedacht. Das hat viel mit meinem Wesen zu tun. Ich denke mir das Furchtbarste aus, in der inständigen Hoffnung, es möge nicht so furchtbar werden. Im Spital sagte der Arzt vor der Operation, er werde das Herz in die Hand nehmen müssen. Ich sagte: "Das ist ja glitschig." Er bejahte und ich sagte, es werde ihm auf den Fußboden fallen und die Putzfrau wird den Boden nicht gereinigt haben. Immer denke ich mir die schlimmsten Sachen aus, das war schon in meiner Kindheit so. Der Nachbar hat sich mit dem Schlachtschussapparat erschossen. Auf meine Frage nach dem Warum hat meine Mutter gesagt, ich würde das nicht verstehen. So habe ich mir eben den Vorgang in seiner schlimmsten Form ausgedacht. Und das hat mich einigermaßen beruhigt.'
Sie hatten Herzschmerzen?
Ich hatte einen schrecklichen Druck auf der Brust und bekam schwer Luft. Ich bat meinen Freund, einen Arzt, um ein Medikament. Er hat gesagt, es wäre sehr vernünftig, ins Spital zu fahren. Und schon landete ich auf dem Operationstisch. Die Dramatik war mir nicht ganz bewusst. Aber das ist ja auch gut so, denn ich bin ein feiger Mensch. Wenn mir der Chirurg mit demselben Katastrophenvokabular, das ich verwende, die Operation beschrieben hätte, wäre ich wohl vom Tisch aufgestanden und gegangen.
Und danach?
War ich komplett im Eimer. Der Rand eines Eimers ist ja nicht einmal so hoch. Aber man denkt sich, wie komm’ ich aus dem Eimer wieder heraus? Zwei, drei Tage nach der Operation gibt es einen Moment der vollkommenen Kraftlosigkeit. In der Intensivstation waren die Patienten durch Vorhänge voneinander getrennt. Ich nahm Kontakt mit links und rechts auf. Da war eine alte Frau, die nur noch Cola trinken wollte. Irgendwann hab’ ich meinen Mut zusammengenommen und zu ihr gesagt, dass sie was essen müsse, sonst würde sie sterben. Das sei ihr gleichgültig, antwortete sie, sie wolle nur ihr Cola trinken, denn das erinnere sie an die schönste Zeit in ihrem Leben. Das Leben klammert sich an Seltsamkeiten. Aber es klammert sich. Die alte Frau hat zum Glück dann wieder zum Essen angefangen.
An was haben Sie sich geklammert?
An die Hand meiner Liebsten. Sie ist jeden Tag ins Spital gekommen. Sie hat mir ein Diktafon gebracht. Und so hab ich in der Intensivstation ein halbes Stück auf Band geflüstert. Ich tat so, als könnten mich auch die schauerlichsten körperlichen Malaisen nicht vom Ausdenken und Beschreiben abhalten. Nichts hat mehr wirklich funktioniert, denn überall an mir waren Schläuche, selbst sehr starke Schmerzmittel haben nicht mehr richtig gewirkt. Aber die Ausdenkung der Welt hat mir geholfen. Sehr zur Unterhaltung der Schwestern, dieser wunderbaren, hilfsbereiten Wesen.
Ruhe geben ging nicht?
Den Rekonvaleszenten spielen? Nein, ich musste schreiben. Sonst bin ich ja tot, noch bevor ich tot bin.
Da Sie dann einen Monat auf Reha waren, muss das Stück beinahe fertig sein.
Ja. Es ist ein einfaches Stück. Es geht um ein altes, durchschnittlich erkaltetes Paar. Die beiden können nur mehr hassen: Sie hassen sich und die Welt und die Flüchtlinge. Durch Zufall kommt ein 16-jähriger Syrer in ihre Wohnung, der sein Handy aufladen will. Er wird mit allen Vorurteilen überschüttet, die man sich nur vorstellen kann. Denn wenn man jahrelang weder mit Händen, noch mit liebevollen Worten gestreichelt wird, vereist man ja und gleicht einem Panzer.
Ein sehr moralisches Stück?
Ich bin Moralist, aber ich richte nicht über meine Figuren. Denn wenn ich gleich zu Beginn eines Stückes ein Urteil spreche, würde ich ja verhindern, dass die Zuschauer mitgehen können. Ich versuche, die Wege meiner Figuren in die Einsamkeit zu beschreiben und verständlich zu machen. Der alte Mann, zum Beispiel, war Briefträger. Irgendwann konnte er die ganzen ausländischen Namen auf den Briefen nicht mehr richtig entziffern, er hat die Wohnungen der Leute nicht mehr gefunden und ist immer mehr verzweifelt. Er hat ja eine Zustellungspflicht. Schließlich ist er in Parks gegangen und hat die Briefe an irgendwelche Ausländer verteilt. Er hat daraufhin ein Disziplinarverfahren bekommen. Weil er ein braver Sozi war, haben sie ihn pardoniert und in Frühpension geschickt. Auf der einen Seite beschimpft das Paar ständig den jungen Syrer, auf der anderen Seite bringen sie ihm Bauernschnapsen bei und ziehen ihn mehr und mehr in ihre leblos gewordene Beziehung hinein. Am Ende sperren sie ihn in ihrer Wohnung ein. Was die Österreicher eben so machen, wenn sie etwas nicht hergeben wollen.
Wie sollen wir uns verhalten in der Flüchtlingsfrage?
Wenn Menschen vor uns stehen, die am Ende ihrer Kräfte sind, dann kann man doch nicht die Tür zumachen und sagen: "Statistisch betrachtet haben wir schon genug Ausländer!" Was wäre denn die Konsequenz solcher Abweisungen? Zuschauen, wie sie erfrieren? Die Flüchtlinge erschießen? Man muss helfen. Das kann für einen selbst beglückend sein, manchmal schwierig und manchmal sogar unerträglich. Ich weiß, wovon ich rede. In der Jugoslawien-Krise hatten wir etliche Flüchtlinge bei uns untergebracht. Die Vorstellung, nichts sei schöner als das Kennenlernen anderer Kulturen, ist Kitsch. Das Frauenbild einiger Mitbewohner von damals war manchmal wirklich schwer zu ertragen. Trotzdem muss geholfen werden. Im Krankenhaus hab ich eine Schwester kennengelernt, die immer, wenn sie dienstfrei hatte, zum Westbahnhof gefahren ist. Das ist eine tolle Person. Die Hilfsbereitschaft in diesem Sommer hat mich richtig stolz auf Österreich gemacht. Das hätte ich von mir auch nie geglaubt, dass ich einmal so etwas wie "österreichischen Nationalstolz" empfinden werde. Bei mir kommt hinzu, dass mein Vater Ausländer war. Ich halte daher schon aus familiären Gründen zu den Leuten aus dem Süden. Manchmal, wenn ich die Gesichter der Flüchtlinge im Fernseher sehe, glaube ich plötzlich, das Gesicht meines verstorbenen Vaters zu erkennen.
Ihr Vater, ein italienischer Kunsttischler, hatte es nicht leicht in Kärnten.
Die Mama hat zwar immer wieder g’sagt: "Vati, lern’ Deutsch! Das musst du, wenn wir dableiben wollen." Aber ich glaube, er hatte immer die Sehnsucht, wieder zurückzugehen. Er ist in Kärnten nie angekommen, weil er mit den Leuten auch nicht wirklich reden konnte, blieb er ihnen fremd und sie wohl auch ihm. Er hat sich in die Werkstatt eingesperrt und seine Sachen geschnitzt.
Die Rechtspopulisten haben allerorts enormen Zulauf. Haben die Intellektuellen versagt?
Die Dichter schreiben gegen alles Üble an, und wie schaut es aus? Schlimmer denn je. Aber versagt? Was bewirken die Leitartikel im KURIER? Gar nichts, und die Zeitung ist viel verbreiteter als jede Literatur. Wir können nichts anderes tun als weiterschreiben, auch wenn uns die Entwicklung der Dinge zwischendurch völlig verzweifelt macht. Natürlich wünscht man sich als Stückeschreiber Wirkung und Veränderung. Aber Theaterbesucher sind eine extreme Minderheit. Wir sind ja an der Peripherie der Gesellschaft angesiedelt. Der ÖAMTC beispielsweise ist ungleich virulenter als die gesamte Theaterlandschaft. Die Opern-Menschen glauben, dass alle ständig Opern hören wollen, aber das stimmt nicht. Die Anna Netrebko kennt jeder, aber die meisten Menschen unterhalten sich – das fiel mir in der Reha auf – nicht über ihre neueste Rolle, sondern darüber, ob sie dicker oder dünner geworden ist.
Am 17. Dezember kommt im Theater in der Josefstadt "Anatol" von Arthur Schnitzler in einer Fassung von Ihnen und Direktor Herbert Föttinger heraus. War Ihre Arbeit schon vor der Operation abgeschlossen?
Nein. Bei Föttinger ist nie etwas abgeschlossen. Selbst nach der Premiere debattiert er über Szenen, die er anders hätte machen sollen. Er ist mit einer Flasche Grappa ins Spital gekommen und hat gesagt, dass dies eine schreckliche Operation sei und er mit mir mitleide, aber wir müssten jetzt wirklich über die neue Fassung von "Anatol" debattieren. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns in der Intensivstation befinden – und dass ich der Letzten Ölung näher sei als einem guten Grappa.
Sie denken an die Letzte Ölung?
Sie wissen doch, dass ich ein verpatzter Katholerer bin. Wer einmal Ministrant war und zu viel Weihrauch geschluckt hat, der ruft immer den lieben Gott an, wenn es ihm beschissen geht. Wenn es wieder besser geht, gebe ich blasphemische Sätze von mir, aber auch das gehört zu einem Exministranten.
Wie kam es dazu, Anatol als alten Mann über die amourösen Abenteuer von einst nachdenken zu lassen?
Seit zehn Jahren gibt es zwischen Herbert Föttinger und mir eine unverbrüchliche Freundschaft. Das ist am Theater gar nicht so üblich. Die Erdolchungen finden ja nicht nur auf der Bühne statt, sondern auch dahinter. Ich habe treue Verhältnisse sehr gerne. Föttinger und ich streiten über Theaterfragen, über Szenen, Sätze und einzelne Worte, aber grundsätzlich halten wir zusammen. Mein einziger Einwand gegen ihn lautet, er hat kein Benehmen. Er ruft schon um sieben Uhr Früh an, verzichtet auf eine Begrüßung und fängt mit erhöhter Lautstärke über eine Szene zu diskutieren an. Ich weiß nicht, wann der Mann schläft. Im konkreten Fall war es seine Idee, die Figur des Anatol mit einem älteren Schauspieler zu besetzen.
Ist Anatol ein Don Juan?
Der Don Juan will ja etwas, er will Sex mit Frauen. Beim Anatol habe ich eher das Gefühl, wenn die Frauen dazu bereit sind, will er es eigentlich nicht mehr. Er ist unfähig zu lieben. Er kann nur nicht genug von dieser Unfähigkeit kriegen.
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