Peter Turrini: "Gegen den Tod kann man sich nur mit Witz wehren"
Peter Turrini war zunächst etwas unglücklich gewesen, weil sein melancholisch-amüsantes Ehedrama „Gemeinsam ist Alzheimer schöner“ in den Kammerspielen herauskommen sollte – und nicht im Theater in der Josefstadt. Doch die Uraufführung im September 2020 mit Maria Köstlinger und Johannes Krisch geriet zum durchschlagenden Erfolg. Sie trug den Dramatiker etwas leichter durch die Jahre der Pandemie.
Und Krisch, nebenbei Intendant der Raimundspiele Gutenstein, gab bei Turrini ein Werk in Auftrag. „Es muss geschieden sein“ handelt zwar nicht von Ferdinand Raimund, atmet aber dessen Geist: Turrini lässt im Theater an der Wien die Proben zu „Der Bauer als Millionär“ von den Wirren der Revolution 1848 überschatten. Das Stück wird am 13. Juli uraufgeführt. Vier Monate später, am 16. November, folgt in der Josefstadt „Bis nächsten Freitag“: Wiederholt treffen sich zwei alte Schulfreunde in einem schäbigen Restaurant. Mit jedem Mal geben sie mehr von sich preis. Das Gasthaus heißt nicht grundlos „Zur tschechischen Botschaft“: Turrini vermittelt zwischen dem linken Buchhändler und dem rechten Dozenten.
In diesem Stück steckt insgesamt viel Turrini: viel Witz, viel Traurigkeit – und etliche biografische Bezüge. Dem KURIER gab der 78-jährige Dramatiker nun eines seiner raren Interviews – bei Kaffee und köstlichem Guglhupf (gebacken von der Nachbarin) in Kleinriedenthal.
KURIER: Zu Ihnen gelangt man neuerdings über den Peter-Turrini-Weg. Ich dachte, dass es eine solche Ehrung immer erst posthum gibt.
Peter Turrini: Sie haben recht, dafür muss man mindestens gestorben sein. Das habe ich dem Bürgermeister auch gesagt, aber er ließ sich nicht davon abhalten. Offen gesagt, habe ich mich darüber gefreut, denn ich fühle mich hier auf eine gute Weise angekommen. Eine Bedingung habe ich allerdings gestellt. Ich will nicht die Hausnummer 1 haben. Das klingt zu angeberisch, wie die Wunschkennzeichen auf den Autos.
Die Weinkeller neben Ihrem Winzerhaus sind jetzt restauriert.
Wie in vielen Grenzorten ist es hier eine wirtschaftlich schwierige Gegend. Viele der älteren Weinbauern haben aufgegeben, die Jungen gehen weg, weil sie hier keine Arbeit finden. So verfallen mit der Zeit die Weinkeller. Ich finde sie wunderschön und habe mir in den Kopf gesetzt, einige von ihnen zu erhalten. Sie sind endlos lang und zum Teil längst eingefallen. Aber zumindest die Torbögen und Eingänge haben wir mit Hilfe von Freunden renoviert. Ein Landeskonservator hat mich dabei beraten und mir folgendes erzählt: Wenn sich Bauern durch das Erdreich buddelten, dann gehörten die ausgegrabenen Gänge ihnen, egal wer über den Kellern der Grundherr war. Das sind sozusagen frühkommunistische Weinkeller.
Sie sind vor drei Jahrzehnten hergezogen. Auch wegen des Weins?
Nein, ich war Biertrinker. Aber hier musste ich mich umgewöhnen. Auf dem Weg, ein Einheimischer zu werden, hab’ ich wohl einen kleinen Leberschaden davongetragen.
In Ihrem Stück „Bis nächsten Freitag“ trinkt der Buchhändler Bier. Er scheint Züge von Ihnen zu haben.
Man soll die Dramatiker nicht mit ihren Figuren verwechseln. Ich beobachte die Menschen, finde etwas vor und mache daraus meine Erfindungen. Manchmal gerate ich allerdings selber ins Visier meiner Beobachtung und das Ergebnis ist sehr widersprüchlich. Wir alle sind doch vermischte Wesen, nicht wahr? Ich zum Beispiel bin eine Mischung aus einem sozialisierten Ministranten und einem linken Sozialisten. Manchmal kommt der verschluckte Weihrauch hervor, manchmal die "Internationale".
Der Buchhändler wurde als Kind gehänselt. Bei dieser Passage im Stück musste ich an Sie denken.
Als Kind und Jugendlicher möchte man so gerne dazugehören. Aber das hat bei mir nicht funktioniert, in diesem Kärntner Dorf in den 50er-Jahren. Unser Vater war ein italienischer Kunsttischler, ein Schnitzer, und wir waren die Ausländerkinder. Außerdem war ich ein dickliches und patschertes Kind, ein Versager in allen Sportarten. Als Jugendlicher habe ich versucht, das weibliche Geschlecht mit Gedichten zu beeindrucken. Das ist natürlich fehlgeschlagen, denn was sollen die Landmädls mit einer Gedichtzeile anfangen, die so lautet: „Ich will dich halten, bis die Kehle einer Blume hell von dunkel trennt“? Also habe ich mir aus Mangel an Erfolg Liebesszenen ausgedacht. Wenn ich als Kind am Rande des Spielplatzes gelandet bin, dann war das zwar irgendwie traurig, aber man hatte dort den besten Platz für Beobachtungen. Und diesen Platz habe ich bis heute nicht mehr verlassen.
Der Prälat des Internats hatte ein Einsehen mit dem Buben: Er öffnete ihm die Tür zur Bibliothek.
Und mir hat der Komponist Gerhard Lampersberg die Tür zur Literatur geöffnet. Im Dorf gab es „Tante Mary’s Nachtcafé“, ein übel beleumdeter Ort. Dort habe ich meine Gedichte vorgelesen, ein Schmerz folgte auf den anderen und alles war tragisch. Lampersberg hat mich lesen gehört und mit in sein Herrenhaus auf dem Dorfhügel, den Tonhof, genommen. Dort lebten damals H. C. Artmann, Thomas Bernhard und andere unbekannte Talente von der Großzügigkeit der Lampersbergs. Er diskutierte mit mir über meine Gedichte und trieb mir behutsam den Schwulst und das Tragödische aus. Aber das größte Geschenk für mich war, dass ein Erwachsener meinen Dichtertraum ernst nahm. Ich durfte am Tonhof ein- und ausgehen, ich war fasziniert von dieser Welt und blieb oft wochenlang oben.
Und Sie entflohen der kleinbürgerlichen Enge?
Ja, wir lebten zu sechst in einem Raum. Meine Eltern, mein Halbbruder, den der Vater aus Italien brachte, und wir drei Kinder. Der Vater versuchte, uns mit Holzschnitzereien über die Runden zu bringen, aber die waren nicht gefragt in diesen Nachkriegsjahren. Es ging um Wiederaufbau, um Fleiß und Schweigen. Es wurde nicht geredet über die Nazizeit, ab und zu erschoss sich ein Bauer mit dem Schlachtschussapparat, über die Gründe herrschte Schweigen. Aber da oben auf dem Tonhof, da wurde geredet. Im Grunde genommen bin ich vom dörflichen Schweigen in die Sprache geflüchtet und habe dabei meine Familie, meine Herkunft, verraten. Meine Mutter hat das sehr gekränkt.
Sie konnte nicht verstehen, dass Sie Ihren Traum leben wollten?
Meine Mutter war als junges Mädchen im „Dienst“. Für sie hieß Leben Überleben. Da gab es keinen Platz für Träume. Kunst war für sie etwas Schönes und Erhabenes, nicht diese schrecklichen Stücke wie „Rozznjogd“ und „Sauschlachten“, die ich schrieb. Ich habe sie einmal nach Wien zu einer Premiere mitgenommen. Bruno Kreisky kam nach der Vorstellung auf uns zu. Meine Mutter hat ihn sehr verehrt. Kreisky gratulierte ihr zu ihrem Sohn und sie antwortete: „Herr Bundeskanzler, können Sie nicht auf meinem Buben einwirken, dass er nicht immer so ordinäre Wörter verwendet?“
Und wie hat Kreisky reagiert?
Er war verdutzt: „Aber Frau Turrini, die Stücke werden sogar in andere Sprachen übersetzt!“ Die Mama war fassungslos: „Was? Die Schweinereien kommen jetzt auch noch in andere Länder?“ Kurz vor ihrem Tod haben wir lange miteinander geredet. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich in meinen Werken auf der Suche nach der Schönheit sei, aber dass sich viel Schreckliches vor dieses Schöne stellen würde – und das müsse man benennen. Und sie hat mir erklärt, was es heißt, in der Nachkriegszeit vier Buben aufzuziehen und dass man den Mund nicht zu weit aufmachen darf, wenn man überleben will, und dass sie immer Angst um mich gehabt hätte.
Sie wandten sich also schon bald der Dramatik zu – und haben ganz genaue Vorstellungen über die Situation und die Äußerlichkeiten Ihrer Figuren.
Ich beobachte die Menschen und nehme Maß an ihnen, bevor ich mir dramatische Verwicklungen für sie ausdenke. In meinem Arbeitszimmer stapeln sich Aufzeichnungen über Menschen, wie sie aussehen, wie sie sich bewegen, wie sie reden. Wenn sie zu Theaterfiguren werden, spiele ich sie mir vor, ich hüpfe durch mein Arbeitszimmer in Kleinriedenthal und spiele einmal diese Figur und dann jene. Ich glaube, ich bin ein verkappter Schauspieler. Ich habe sogar im Reinhardt-Seminar vorgesprochen, bin aber durchgefallen. Mein Kärntner Dialekt war damals unüberhörbar, vor allem bei den klassischen Rollen. Außerdem schreibe ich in meinen Stücken nicht nur Sprechtexte für Schauspieler, sondern sehr viele Regiebemerkungen für Regisseure.
Aber kaum ein Regisseur hält sich bei der Umsetzung daran.
Sie stoßen in eine alte Wunde, die inzwischen einigermaßen verheilt ist. Auf diesen Weg der Heilung oder besser gesagt der Einsicht haben mich sehr viele Whisky begleitet. Am Anfang war ich bei Proben entsetzt, dass die da oben nicht so spielen, wie ich mir das ausgedacht habe, und bin in die Kantine geflüchtet. Inzwischen habe ich gelernt, dass das Theater eine gemeinsame Kunst ist und dass man durch das Können der Schauspieler und der Regisseure auch beschenkt werden kann. Aber eines kann und will ich nicht hinnehmen: Das Umdichten meiner Texte und das Vermischen mit fremden Texten. Da kann ich noch so viele Whiskys trinken.
Warum nehmen Sie den Umweg über andere, wenden sich nicht direkt an Ihre Adressaten? Indem Sie zum Beispiel Romane schreiben.
Weil ich es nicht kann. Es gibt einen Roman von mir, „Erlebnisse in der Mundhöhle“ aus den 70er-Jahren. Wenn ich ihn heute durchlese, verstehe ich ihn selbst nicht mehr. Ich bewundere Kolleginnen und Kollegen, die sowohl die Prosa, als auch das Drama beherrschen. In meinem Kopf geht es immer dialogisch zu. Rede und Gegenrede. Diese Angst vor dem Schweigen, die ich seit meiner Kindheit in mir trage, kann ich nur mit dem Theater überwinden.
In „Bis nächsten Freitag“ versuchen zwei alte Schulfreunde, wieder ins Gespräch zu kommen. Doch sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Buchhändler hat ein Herz für Flüchtlinge – und der andere, ein Dozent, ist ein xenophober wie homophober Verschwörungstheoretiker, ziemlich unsympathisch.
Ich muss widersprechen. Eine so eindimensionale Figur wäre uninteressant. Unter der rüden Oberfläche dieses zynisch gewordenen Menschen rumoren Ängste, die Angst vor dem Alter, die Angst, in dieser Welt überflüssig zu werden, die Angst vor dem Tod. Zwischen Oberfläche und Tiefe entwickelt sich die Fallhöhe dieser Figur. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was Menschen untertags daherreden, und dem, was sie in der Nacht erzittern lässt. Auch die Sprache kann eine Maske sein. Mich interessiert das Gesicht dahinter.
Es kommt auch zu einer Annäherung der beiden. Das ist ja auch das, was Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner will: Versöhnung. Sie haben aber große Bedenken.
Ich bin immer fürs Reden, auch wenn die Standpunkte unvereinbar erscheinen. Aus dem Schweigen entstehen nur Verdächtigungen und Unterstellungen. Wir reden ja mit der Landeshauptfrau, wenn auch öffentlich. Sie hat ihre Gründe dargelegt, warum diese Koalition mit der FPÖ notwendig war. Wir, die Künstlerschar, haben argumentiert, warum wir sie für unselig und gefährlich halten. Sie sagt, dass sie weiterhin ihre schützende Hand über die Künstler halten wird, und wir halten das für ein Missverständnis. Wir sind keine Lamas im Gehege, die man mit Karotten abspeisen kann. Uns geht es nicht primär um das Wohl und Wehe der Künstler, sondern um die Liberalität in diesem Land, die mit dieser Regierungsbeteiligung auf dem Spiel steht. Die Landeshauptfrau redet von Schnittmengen mit der FPÖ, wir befürchten Schnittwunden – auch für sie.
In Ihrem Stück tauchen viele Wörter auf, die als politisch unkorrekt gelten und beleidigend sind – vom „Zwerg“ bis zum „Neger“. Kann das Josefstadt-Theater diese Ausdrücke überhaupt bringen?
Herbert Föttinger, der den xenophoben Dozenten spielen wird, ist für alles Mögliche bekannt, nur nicht für Feigheit. In diesem Stück wird zeitweise geredet, wie manche Menschen reden, die sich unter sich wähnen. Warum sollte das nicht auf die Bühne gebracht werden? Die beiden Kleinwüchsigen sind ganz wichtige Figuren: In einer Welt des Scheins und der Ausgrenzung erleben sie das allergrößte Glück. Sie sind die frohe Botschaft des Stücks.
Sie feiern Hochzeit. Der Mann erzählt, dass ihm ein Kompliment der Frau half, über sich „selbst hinaus zu wachsen“. Ich musste beim Lesen an André Heller denken, der in „Und dann bin i ka Liliputaner mehr“ über die Kraft der Liebe sang: „I wochs, i wochs, i wochs!“ Erweisen Sie ihm die Reverenz?
Nicht bewusst, aber es gibt Lieder vom Heller, die mir sehr gefallen. Ich leide unter seiner derzeitigen Verdammung. Von der Lobpreisung zum Spießrutenlauf. Ich habe ihn immer als einen sehr großzügigen Menschen erlebt. Als wir in jungen Jahren aus Geldmangel an einem Filmprojekt zu scheitern drohten, hat er uns finanziell unterstützt, einfach so. Meinem Freund, dem Liedermacher Sigi Maron, hat er jahrelang bei den Produktionen seiner Platten und CDs geholfen. Und vielen anderen auch. Er hat ja zugegeben, dass er diesen Rahmen manipuliert hat. Ich vermute aus Eitelkeit. Eine Eigenschaft, die man auch von sich selbst kennt. Aber deshalb ist man ja kein Schwerverbrecher. Ich verteidige nicht, was Florian Teichtmeister gemacht hat, das ist schlimm genug. Aber es widert mich an, wenn man sich derart an einem Menschen abreagiert und ihn als Sau durch das mediale Dorf treibt, anstatt sich zu fragen, welche Abgründe in der eigenen Brust schlummern. Unsere Öffentlichkeit ist vergiftet von diesen Momentaufnahmen, die alles Übrige eines Lebens zudecken: Der ist ein Kunstfälscher! Und der ist ein Kinderschänder! Aber jeder Mensch ist mehr als die Schlagzeile, mit der man auf ihn einschlägt. Die Methode in meinen Stücken ist: Ich will die Geschichten unter den Überschriften erkunden.
„Bis nächsten Freitag“ ist schreiend komisch. Und zum Schluss wird die Geschichte unheimlich tragisch.
Finden Sie? Der geschminkte Tod fordert den Dozenten zum Tanz auf, aber der kann leider nicht tanzen. Das ist doch komisch. Mir ist es in den letzten Jahren gesundheitlich oft sehr schlecht gegangen, also laufe ich mit Skistöcken durch die Gegend. Plötzlich merke ich, dass der Tod hinter mir hergeht und auch auf Nordic Walking umgestellt hat. Gegen den Tod kann man sich nur mit Witz wehren. Das funktioniert zwar nicht immer, aber immer öfter.
Funktioniert das auch bei der KI?
Ich freue mich über Erfindungen, die den Menschen bei der Bewältigung des Lebens helfen können, aber über eine Erfindung, die darauf abzielt, ihn zu ersetzen, darüber erschrecke ich. Wenn ich nicht mehr weiß, ob ein Satz von einem Menschen oder einer Maschine geschrieben wurde, wenn ich von einem Foto nicht mehr sagen kann, ob es echt oder gefälscht ist, wenn Wahrheit und Lüge nicht mehr voneinander zu trennen sind, wenn also alles von gleicher Gültigkeit ist, also gleichgültig, dann ist das der Türöffner zur Hölle. Das ist das Ende des Witzes.
Peter Turrini, geb. am 26. 9.1944, wuchs in Maria Saal auf. Von 1963 an arbeitete er u. a. als Magazineur, Werbetexter, Hotelsekretär. Gleich mit „Rozznjogd“, 1971 am Volkstheater uraufgeführt, gelang ihm der Durchbruch: Ein Paar (Franz Morak und Dolores Schmidinger) legt auf einer Müllhalde alle Masken ab. Turrinis Herz schlägt von Anfang an für die Unterdrückten und Benachteiligten, er gibt ihnen eine Stimme und lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren – in der Fernsehserie „Alpensaga“ (1974 –1979) oder in „Josef und Maria“ (1980) und „Die Minderleister“ (1988). Claus Peymann brachte als Burgtheaterdirektor viele seiner Dramen heraus. Seit 2006 („Mein Nestroy“) gelangen fast alle neuen Turrini-Stücke im Theater in der Josefstadt zur Uraufführung.
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