Paulus Manker: Panoptikum eines Weltuntergangs

Paulus Manker spielt als Regisseur effektvoll mit Licht und Schatten, mit Feuer und Nebel, mit großen Gesten und prächtigen Kostümen.
„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus als imposantes Spektakel in der Serbenhalle von Wiener Neustadt

Andere hätten den Versuch nicht einmal gewagt. Denn zu umfassend, zu überbordend, zu vielschichtig ist das Panoptikum „Die letzten Tage der Menschheit“, das Karl Kraus, der Chronist und Kommentator des Ersten Weltkriegs, für nicht aufführbar hielt. Hat die Tragödie, die es auf 760 Seiten bringt, doch 220 Szenen, die an 137 unterschiedlichen Orten spielen. Und es gibt 1114 Rollen. Alle Schichten kommen vor: prominente Akteure und namenloses Volk, Offiziere und Adelige, Pülcher und Huren, Zeitungsfritzen und Abonnenten, Kriegsgegner und Kriegsgewinnler, Verwundete, Verkrüppelte – und viele Tote.

Paulus Manker hingegen hat sich von seinem geradezu irrwitzigen Vorhaben nicht abbringen lassen. Tatsächlich jahrelang muss er den Text seziert, hinterfragt haben. Denn bereits das Programmbuch, als Eintrittskarte aushändigt, ist ein prächtiges Erklärstück rund um den Untergang der Monarchie: Collageartig liefert Manker zu allen 75 Szenen, die er ausgewählt hat, die Illustrationen und Hintergrundinfos. Den Ausgangspunkt bildet, wie bei Kraus, die „Sirk-Ecke“, wo Zeitungsverkäufer eine Extra-Ausgabe anpreisen: „Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!“

Das Attentat am 28. Juni 1914 in Sarajewo auf Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie verübte bekanntlich Gavrilo Princip – und daher „Gottlob kein Jud“, wie ein Flaneur des Ringstraßenkorsos erleichtert feststellt. Damals promenierte man von der „Sirk-Ecke“ zum Schwarzenbergplatz und retour. Der Ausgangspunkt war aber kein Kaffeehaus, wie mancher meinen möchte, sondern das Lederwarengeschäft des August Sirk, „Zum Touristen“.

„Alma“ als Fundament

Die Fassade dieses Geschäfts ließ Manker für sein überwältigendes Spektakel nachbauen – in der 300 Meter langen „ Serbenhalle“, die 1942 von der Wehrmacht in Kraljevo erbeutet und nach Wiener Neustadt transferiert worden war. Einen Teil, ein Seitenschiff der Montage-„Basilika“, durfte Manker von 2014 an mit dem Simultandrama „Alma“ bespielen, das als „A Show Biz ans Ende“, konzipiert von Joshua Sobol, bereits 1996 bei den Wiener Festwochen seine Uraufführung erlebt hatte. Mit viel Liebe zum Detail richtete Manker den zweigeschossigen Werkstätten- und Büro-Trakt mit Tand und Antiquitäten ein, um das Leben der Alma Mahler-Werfel, die unter anderem ab 1912 eine heftige Affäre mit Oskar Kokoschka hatte, zu erzählen.

Manker nutzt „ Alma“, den Abgesang auf die Wiener Moderne, nun als Fundament. Denn der Salon, das Lazarett, die Küche, das Bad und so weiter dienen auch jetzt als Schauplätze. Zudem übernahm Manker das Konzept der simultan ablaufenden Szenen: Immer wieder hat man sich zu entscheiden, welcher Figur man folgen will.

Man belauscht etwa den Dialog zwischen dem Optimisten (eine der vielen Rollen des Alexander Wächter) und dem Nörgler, also der Figur des Karl Kraus, der die Presse geißelte: Sie sei nicht der Bote, sondern das Ereignis. Franz Josef Grotrian (besser bekannt als Burg-Schauspieler Csencsits) bewältigt als Oberlehrer Kraus riesige Textmengen mit Bravour.

Und man wird im Laufe des sechseinhalbstündigen Abends viel Österreichisch hören – „klassikanisch“ geradezu. Man wohnt auch einer Sitzung der deutschnationalen Cherusker bei, in der – was Manker diebische Freude gemacht haben dürfte – die Kollegas von der Germania zu Wr. Neustadt begrüßt werden. Inbrünstig singt man dann antisemitische Lieder.

Sensationslüstern

Bei „Alma“ fuhr man zu Beginn mit der Lok vom Vorplatz in die Halle hinein. Jetzt ist es umgekehrt: Erst nach dem frenetisch bejubelten Kriegsausbruch („Serbien muss sterbien!“) tuckert man hinaus in die Gstätt’n. Show-Schützengräben anzulegen, die ab dem Herbst 1915 im Prater eine Attraktion waren, ließ sich allerdings nicht realisieren. Denn die öffentliche Hand gab, so die Erklärung eines Predigers, schändlicherweise mehr oder weniger nichts.

Manker hat natürlich in die Abfolge eingegriffen und Szenen pointiert gebündelt. Auf den Schabernack, den die Soldatenschauspieler im Prater treiben, folgt der erste Auftritt der Alice Schalek, die sensationslüstern von der Front berichtet. Iris Schmid porträtiert sie bauchnabelfrei im Ledermantel als unglaublich naives Grid-Girl.

Doch die Ernüchterung wird folgen. Es ist eines langen Tages Reise in die Nacht – aus dem Sonnenlicht in die Düsternis. Manker setzt wieder den rollenden Katafalken ein (nicht für das Begräbnis von Gustav Mahler, sondern für jenes des Zeitungslesers Biach). Nach dem üppigen Leichenschmaus werden die Szenen immer grotesker, zynischer, hysterischer und bedrückender. Französische Ausdrücke – Pardon! – sind verboten, die Wucherer machen blendende Geschäfte, ein Vater sucht nach seinem vermissten Sohn. Dann folgt ein Tanz auf dem Vulkan: Die Militärs betrinken sich wortreich, während der Russe die Stellungen einnimmt.

Als Epilog wählte Manker ein Einzelschicksal: Anna gesteht ihrem „inniggeliebten“ Mann, der doch nicht gefallen ist (sondern Geld schickte), von einem anderen schwanger zu sein: „Verzeihe es mir, lieber Franz, vielleicht stirbt das Kind und dann ist alles wieder gut.“ Am Ende ihres Briefes bedankt sie sich für das Geld. Sie kann es gut gebrauchen.

Frenetischer Jubel.

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