Paul Austers 1200 Seiten haben sich ergeben

Paul Auster in der Universität von Oviedo, Spanien
Bei seinen "Was wäre, wenn"-Spielen im Roman "4 3 2 1" ist der Amerikaner kaum zu erkennen.

Während Paul Auster schreibt, tappt er im Dunkeln.

Er stolpert.

Während Paul Auster schreibt, weiß er nichts.

Er zweifelt, er fürchtet zu scheitern, und dann ... ergibt ES sich. Seit seiner New-York-Trilogie (1987) ergab ES sich 16 Mal.

"4 3 2 1" mit eingerechnet.

Wobei zuletzt drei Romane wenig gefallen konnten:

"Reisen im Skriptorium" (geistige Masturbation), "Mann im Dunkel" (unselige Verschachtelungen) und "Sunset Park" (wie am Reißbrett konstruiert, Austers oben wiedergegebene Aussage zum Trotz).

Aber mit "4 3 2 1" – ab kommendem Dienstag im Buchhandel – hat sich bei dem bald 70-jährigen Amerikaner wieder etwas Großes und Dickes ... ergeben.

Trauma mit Blitz

Die Idee ist: Man stelle sich vor, wie schnell sich alles ändern könnte, auch wenn man selbst immer derselbe bliebe – mit denselben Eltern.

Weil etwas so geschehen ist, heißt das ja nicht, dass es nicht anders geschehen könnte. Wenn Papa nicht früh gestorben wäre ...

Wenn die Familie unnötig viel Geld gehabt hätte.

Wenn ich die Amy hätte heiraten dürfen – was nicht möglich war, weil meine verwitwete Mutter ausgerechnet mit Amys Vater zusammen gekommen ist ...

Seit Paul Auster mit 14 auf einem Sommerlager war, wird er von dieser Erinnerung verfolgt: Ein Blitz schlug in einen Baum ein, ein Ast fiel herunter und erschlug einen Kameraden.

"Alles kann in jedem Moment geschehen – jedem."

Das spielt er offen durch. Das lernen wir anhand der Figur des Archie Ferguson, geboren 1947. Rund vier Jahrzehnte begleiten wir ihn.

Genau gesagt, handelt es sich um Ferguson 1, Ferguson 2, Ferguson 3, Ferguson 4. In jedem Lebensabschnitt wird gewechselt. Den "Zweier" kann man vergessen, er stirbt.

So hat man drei Bildungsromane. Inklusive Kennedy, Martin Luther King, Vietnam ... (Wäre Ferguson 1 nicht bei einem Autounfall der Daumen abgerissen worden: Er hätte nach Vietnam müssen. Und dann?)

Fallen fehlen in "4 3 2 1". Als Leser stürzt man nicht irgendwo hinein.

Vielmehr gräbt man sich in diese vielen Geschichten. Dazu gehören als Bonus die Abenteuer zweier Schuhe namens Hank und Franck.

Wird dauern, bis man nach mehr als 1200 Seiten wieder nach oben kommt.

Dass es ein Buch von Paul Auster ist, ist nicht zu merken. Lang sind die Sätze, lang sind die Absätze, einfach und überreich an Details. Wenn einem Ferguson der Polster zu hart ist oder zu weich, so wird man’s erfahren. Stimmt, das kann langweilen. Tut es selten.

Von Baseball und Basketball ist oft die Rede, von rettenden Kinofilmen, von Schriftstellern und Büchern (die man lesen sollte) – und von Sex. So viel Sex gab es bei Paul Auster noch nie, und jetzt weiß man sogar, was Küssen ist. Nämlich:

"das köstliche Gemansche zuckender Zungen und klirrender Zähne".

Paul Auster:
„4 3 2 1“
Übersetzt von Thomas Gunkel, Werner Schmitz,
Karsten Singelmann, Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag. 1264 Seiten. 30,80 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

Fragen nach dem Warum sind verboten

Paul Auster redet höchst ungern mit Journalisten. „Sie vereinfachen, was man nicht vereinfachen darf.“
Mit Literaturprofessorin I.B. Siegumfeldt von der Universität Kopenhagen begab er sich Werk für Werk in einen Dialog, der sich über drei Jahre erstreckte. Um Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, wie er sagt. Zum Beispiel: Seine autobiografischen Bücher (zuletzt: „Bericht aus dem Inneren“) sind tatsächlich autobiografisch. Seine Romane sind fiktiv.
Fragen nach dem Warum waren nicht gestattet: Paul Auster hat keine Ahnung vom Warum. Vorrangig geht es ihm um Sprache, nicht um Erkenntnis. Das kann dazu führen, dass er bloß über einen alten Menschen schreiben wollte ... und in einer Kritik zu lesen war, das sei eine Fabel über die geheimen CIA-Gefängnisse .
Auch „Ein Leben in Worten“ erscheint am kommenden Dienstag. Man sollte sich in Paul Austers Welt vorher zurechtfinden, um hier Zusätzliches zu erfahren – mitunter ist von ihm aber nur ein eh sympathisches „Das weiß ich nicht“ zu hören.

Paul Auster und Inge Brigitte Siegumfeldt:
„Ein Leben in Worten“
Übersetzt von Werner Schmitz, Silvia Morawetz. rororo. 416 Seiten. 13,40 Euro.

KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

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