"Ödipus Tyrann" im Volkstheater: Das mit dem Ende der Welt hätten wir wissen können
Wer ist schuld? Der Mensch, natürlich. Ödipus, natürlich. Die verdammte Schuldfrage bestimmt sein Leben. Bekanntlich tut er alles, um der Voraussage Tiresias’ zu entgehen, nach der er dereinst seinen Vater töten und seine Mutter heiraten würde.
Indes: Es gibt so etwas wie Schicksal. Ist er also schuld? In Nicolas Stemanns Neuüberarbeitung von Sophokles' „König Ödipus“ ist der Mensch, ist Ödipus schuld. Stemann wählt in seiner ursprünglich in Zürich gezeigten Interpretation wie schon Friedrich Hölderlin den deutlich wertenden Zusatz „Tyrann“. Dieser „Ödipus Tyrann“ rennt, fast möchte man sagen: sehenden Auges in die Katastrophe. Makaber natürlich, man weiß ja, wie das mit Ödipus endet. Er sticht sich die Augen aus, schöner: Er blendet sich.
Im Volkstheater wird zur Veranschaulichung auch das Publikum geblendet, glücklicherweise nur mit gleißendem Licht (das Design in Zürich stammte von Carsten Schmidt, in Wien ist Ines Wessely zuständig). Zuvor wird Mutters/Iokastes blutiger Rock an einem Seil über dem Zuschauerraum empor gezogen (Kostümbild: Marysol del Castollo, Dorothea Knorr). Eindrucksvolle Effekte, sie funktionieren gut im Zusammenspiel mit der Musik, insbesondere, nachdem zuvor über eine Stunde lang eine karge graue Wand die Bühne dominiert hat.
Eine Streitfrage
Man kann darüber streiten, ob Ödipus je eine Chance hatte. Stemann wählt bei der Abwägung von Schuld und Schicksal die eindeutige Antwort. Der Mensch ist kein Opfer des Schicksals. Ödipus’ Königreich, das hier stellvertretend für die Welt steht, liegt im Sterben. Das Volk ruft: „Wer ist schuld?“ Und immer wieder heißt es: Die Antwort war „der Mensch.“ Klingt schlüssig. Artensterben, Überschwemmungen, Naturkatastrophen aller Art – ist ja nicht so, dass uns keiner gewarnt hätte. Wer als Austragungsort für eine Veranstaltung, die sich Welt-Klimagipfel nennt, Brasilien wählt und eine Autobahn in den geschützten Regenwald baut, muss sich nicht wundern. Wer trotzdem fassungslos dasteht, wenn Flüsse über die Ufer treten und zum Beispiel halb Niederösterreich überschwemmt wird, hat ganze Verdrängungsarbeit geleistet.
Dennoch ist manches, das man hier zu hören bekommt, platt. Wenn der Seher Tiresias, obwohl man ihm einen Uzo hinstellt, lieber Schweigen statt sprechen möchte, begründet er das so: „Ist besser für uns beide, glaub mir. Schönen Tag noch.“ Dieses flapsige, stellenweise überbordende Gequatsche wirkt angesichts des Endes der Menschheit, um das es hier gehen soll, unpassend.
Dass dieser Abend trotzdem zur Empfehlung wird, liegt auch an der Inszenierung, vor allem aber an den umwerfenden Darstellerinnen. Alicia Aumüller und Patrycia Ziółkowska spielen sich die Seele aus dem Leib. Sie verkörpern alle Rollen, sind Volk, Ödipus, Iokaste und Tiresias zugleich. Mit nur winzigen äußerlichen Änderungen (mit kürzerem oder längerem Rock, mit oder ohne Krone) gestalten sie immer neue Figuren. Ziółkowska ist mal fast grotesk verzweifelter Ödipus, mal, im Zusammenspiel mit Aumüller, fantastischer, perfekt synchroner Chor. Atemberaubend. Große Begeisterung im Publikum.