Der durchschnittliche Rocker muss, falls es Sie interessiert, rund 1,5 Mal in der Stunde Wasser lassen. Alle zwei Stunden, die man hinter ihm im Stau steht, sieht man ihn demnach drei Mal pinkeln (diesen Satz müssen Sie bitte mit der Stimme des Sprechers von “Universum” im Kopf lesen). Es gibt Schöneres!
Die Blasenschwäche des Vordermanns war jetzt zwar vielleicht nicht der zentrale Recherchepunkt am ersten Rockfestival in Österreich nach der Pandemie. Aber sonst passiert halt am Pannenstreifen vor Nickelsdorf nicht viel. Dort blieb man nämlich zum Auftakt des Nova Rock am Donnerstag erstmal stundenlang hängen. Es sollte nicht die einzige Schwierigkeit bleiben.
Vorsicht, Wortwahl
Am Donnerstagnachmittag, zur vom Veranstalter empfohlenen Anreisestunde, hatte man also erstmal ganz viel Zeit für anthropologische Kleinststudien (Luxusautos, die sich am Stau vorbei- und dann knapp vor der Abfahrt in die Schlange hineindrängen, wecken übrigens im durchschnittlichen Rockfan – “Universum”-Stimme! - geradezu erstaunliche verbale Ausdruckskraft).
Denn die Parkplätze waren vom Regen derart aufgeweicht, dass nicht nur bei den Verkehrseinweisern (deren originelle Entscheidungen den nächsten Unterhaltungspunkt für die im Stau Stehenden boten) eine gewisse Ratlosigkeit herrschte, wo denn all die Autos hinsollten. Die Anreise verlief dementsprechend chaotisch.
Auf der Autobahn zu warten war mit der Weisheit des nächsten Tages aber jetzt auch nicht gar so schlimm. Denn im Vergleich zum Gelände selbst, das man im Auto sehnsuchtsvoll ersehnte und dann doch noch erreichte, scheint sogar der kinderverdreckte Innenraum des eigenen Autos wie glattgeleckt: Anhaltender Regen hatte die Pannonia Fields – ein wunderbar hochtrabender Name für die dortigen Felder - in einen Ort fast mythologischer Kraft verwandelt. Hier ließ man beim Eintritt kurz einmal alle Hoffnung fahren: Es gibt Schlamm, Baby!
Regisseure, herhören: In der rutschigen, glitschigen Erdsuppe könnte man ohne viel Aufwand die nächste Staffel jeder postapokalyptischen Zombieserie drehen.
Außer Übung
Insgesamt schienen am Auftakttag auch abseits der Wetterkapriolen alle Beteiligten etwas außer Übung. Damit ist gar nicht nur die Fortbewegung am Gelände gemeint: Gehen ist am Nova Rock ab einem gewissen Zeitpunkt ja ohnehin immer ein Problem. Diesmal aber muss man keinen Tropical Spritzer im Literbecher eingeworfen haben, um ein ganz schlechtes Bild abzugeben: Im Schlamm stakst auch der nüchterne Kulturredakteur wie im Öl.
Außer Übung schienen nach zwei Jahren Pause aber auch abseits des Wetters (damit muss man da draußen rechnen!) sowohl Personal als auch Publikum: Noch im Stau konnte man Beschwerden über fehlende Klos, fehlendes Bier und wummernde Elektromusik (auf einem Rockfestival ungefähr so beliebt wie ein Rapidschal im Austriastadion) lesen. Das Home Office hat uns allen nicht gut getan. Und – welch’ unangenehme Erinnerung an die Pandemie! - auch das Klopapier war wieder Thema.
"Diese Abläufe hier sind für viele Mitwirkende völlig neu"
Veranstalter Ewald Tatar betont: “Wir spielen unter Bedingungen, die wir dem Publikum und uns nicht wünschen, aber wir spielen.” Andere Festivals wären abgesagt worden, es würden Mehrkosten in Millionenhöhe entstehen. Und ja, es gibt auch nachpandemische Schwierigkeiten: “Firmen, die seit Jahren mit uns arbeiten, haben die wichtigsten Mitarbeiter verloren”, sagt Tatar. “Diese Abläufe hier sind für viele Mitwirkende völlig neu. Das ist bei solchen Bedingungen noch mehr verschärfend. Und einiges an Personal ist wegen des Wetters nicht gekommen.”
Glücklich ist, wer vergisst. Dazu gibt es am Nova Rock natürlich allerlei Hilfsmittel. Unter denen, über die man im Onlineangebot einer Zeitung schreiben kann, sind: ein derart rasantes Ringelspiel, dass man um die Mageninhalte der Beteiligten fürchten muss; die schon erwähnten Literbecher für alkoholische Getränke, deren Preise ja auch schon Jahre vor den jüngsten weltwirtschaftlichen Entwicklungen zeigten, wie Inflation funktioniert; und ja, die Musik.
Die konnte man, wenn man wollte, durchaus als postpandemische Gruppentherapie verstehen: “Rettet mich mich vor dem Nichts, das ich geworden bin”, heißt es in “Bring Me To Life” von Evanescence, offenbar eine späte Hymne an das Einschalten der Kamera bei der Videokonferenz.
Rise Against besangen die “Nowhere Generation” - für die sich “eines Tages die Türen öffnen würden”, da kann es doch nur um das Lockdownende gehen.
Und Steel Panther widmeten sich wunderbar Social-Distancing-adäquat den, Entschuldigung, Vorteilen der Masturbation.
Viele der Acts gaben den Fans auch verbale Variationen zum Thema “Wir haben euch” vermisst mit. Wir euch auch!
Zornige Muse
Zum Abschluss dann: Muse. Die waren zorniger, härter, als man sie in Erinnerung hatte, ein schönes Ventil für manche Emotion, die sich vielleicht noch angestaut hatte. Hier dienten als Pandemierinnerung nur die silbernen Masken, die die Band beim ersten Song trug, danach gab es pure Musik, und die Reaktion darauf hatte man in den letzten Jahren dann doch nicht verlernt.
Apropos: Im Laufe des Abends stellte sich dann doch durchaus Festivalstimmung ein. Es gab lustige Kostüme und etwas gatschgehemmte Anbandelungsversuche, Freundinnen wurden auf Schultern getragen und Refrains mitgesungen. Nur der Kasspätzle-Stand hatte, bedauerlicher Weise, geschlossen.
Ein ganz anderes Bild am Freitag
Über Nacht aber wurde ganze Arbeit geleistet; der Boden wurde bis Freitagmittag großflächig mit Holzschnitzel-Auflage bestreut und gab nun Frieden. Und ja, weil es eben das Nova Rock ist, wurde es dann am Freitag gleich wieder staubig.
Da war sie dann auf einmal, die Festivalstimmung.
Sie war sonnig und freundlich. Die Sportfreunde Stiller waren gerade rechtzeitig aus der Bandkrise zurück und versprühten eine Sanftheit, die den harten Rockern im Publikum fremd, aber nicht uninteressant vorkam.
Song-Contest-Sieger Maneskin wiederum hatten wenig an und widmeten sich auf konstruktive Art jener geschlechtlichen Unschärfe, die jene Menschen, die lieber nicht auf Rockfestivals gehen, derzeit verlässlich zum Zornspucken bringt. Mann? Frau? Egal.
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