"Niemand" von Gwenaëlle Aubry: Hommage und Entschuldigung

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Die Huldigung eines Menschen, der nicht so sein durfte, wie Menschen zu sein haben.

Erst als ihr Vater starb, Herzinfarkt auf dem Gehsteig, konnte die auf die 40 zugehende Französin Gwenaëlle Aubry nach ihm suchen.

Er war nämlich so viele gewesen.

James Bond und Clown und Clochard.

Einmal ging er zur nächsten Polizei, um sich für die Spionageabwehr zu bewerben. Als man ihn auslachte, randalierte er.

Dabei wäre er am liebsten „Niemand“ gewesen.

Befreiung

Das aber erlaubte sein Wahnsinn nicht: Beim einstige Juraprofessor an der Sorbonne (und Sohn eines Arztes) war das Manisch-Depressive ausgebrochen. Der Realitätsbezug ging immer mehr verloren. Seine Frau ließ sich scheiden.

Eine Praxis für Lebensberatung hätte er auch gern aufgesperrt.

Gwenaëlle Aubry vergleicht ihren Vater mit einem Chamäleon, das einmal so ausschaut und einmal so – und erst dann Ruhe findet, wenn es auf einem Stoff mit Schottenmuster sitzt.

„Niemand“ ist ihr Versuch, nach seinem Tod mit ihm über die Verrücktheiten des Lebens zu sprechen.

"Niemand" von Gwenaëlle Aubry: Hommage und Entschuldigung

Für die Tochter – Philosophin und Schriftstellerin – ist dieser tiefgehende, feinfühlige und niemals jammernde Roman eine Befreiung.

„Niemand“ ist auch ihre Entschuldigung. Denn freilich gab es Momente, da hat sie den kranken Vater, der wiederholt in Kliniken eingeliefert werden musste und immer wieder verschwunden ist, gewissermaßen links liegen gelassen wie einen Bettler auf der Straße.

Sie hatte damals selbst kleine Kinder, und die reichten ihr völlig.

Seine letzten Monate schrieb er. Die Krankheit nannte er „ein störendes Gespenst“.

Dem Manuskript gab er den Titel „Das melancholische schwarze Schaf“. Er notierte den Vermerk: „einen Roman daraus machen“.

Doppelporträt

Gwenaëlle Aubry hat seine Aufzeichnungen in „Niemand“ fließen lassen, sodass es ein zweistimmiger Gesang werden konnte. Das Porträt von Vater und Tochter.

Das Buch einer Liebe.

Die Huldigung eines Menschen, der nicht so sein durfte, wie Menschen gefälligst zu sein haben.

KURIER-Wertung:

INFO: Gwenaëlle Aubry: „Niemand“ Übersetzt von Dieter Hornig. Droschl Verlag. 152 Seiten.18,50 Euro.

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