Nick Caves "Spucktütenlied"
Der in England lebende australische Musiker und dunkle Poet Nick Cave hat ein Lied geschrieben, das man nicht singen kann.
Man will es nicht einmal aussprechen.
Im Englischen klingt es halbwegs gut, "sick bag", aber in der deutschen Übersetzung wird es zur Spucktüte … und ist ein Speibsackerl, wie sie in Flugzeugen hinten an den Sitzen zur freien Entnahme stecken.
Während der mehrwöchigen Nordamerika-Tournee 2014 mit seiner Band The Bad Seeds – Nick Cave kam direkt von einer Entziehungskur – hat er 22 Stück vollgeschrieben.
"Das macht doch jeder Passagier", hat er später in einem Interview gemutmaßt. Na ja.
Jedenfalls hatte er viele Gelegenheiten, er flog von Kansas City nach Detroit, nach Milwaukee, nach Minneapolis … und dichtete.
Was er liebt und was er hasst, habe er hineingetan.
Und er hat, "zur Tütenentsorgung", wie es heißt, nicht die Stewardess zu Hilfe gerufen, sondern lieber ein Buch daraus gemacht; überrascht davon, wie "leicht" es sei, ein (episches) Gedicht zu schreiben.
Zum Kotzen ist es nicht.
Auf der Brücke
"Das Spucktütenlied", zweisprachig, ist ein kleines Juwel der Buchkunst.
Ein ziemliches Durcheinander an Gedanken ist es ebenfalls – beginnend mit einem Zwölfjährigen, der auf einer Eisenbahnbrücke steht und einen Zug hört.
Aber es ist gar kein Bub, nein, es ist die Erinnerung eines Sängers, der gerade auf Tournee ist, an einen Buben.
Und der Sänger (erfährt man am Ende) ist kein Sänger, sondern bloß der Traum eines Buben mit Tränen in den Augen, der auf einem vibrierenden Eisenbahngleis steht.
Wenn Nick Cave abhebt, ist es schwierig, ihm zu folgen. Da kann ganz schön hochtrabendes Zeug entstehen. Umgeben von falschen Engeln, kleinen Göttern und einer winzigen Drachenfrau im Hotelbett kann er immerhin behaupten, ein Dichter zu sein.
Bleibt er am Boden, klingt er ehrlich, und man ist ihm nah. Bestes Beispiel: In der Früh bringt der 57-Jährige vor dem Spiegel sein Gesicht in Position und färbt das Haar schwarz, damit er "weniger nach Kim Jong-un und mehr nach Johnny Cash" aussieht …
Das "Spucktütenlied" war fertig ausgefeilt, als Nick Caves 15-jähriger Sohn im LSD-Rausch von einer Klippe stürzte.
Nick Cave:
„The Sick Bag Song – Das Spucktütenlied“
Übersetzt von Eike Schönfeld.
Kiepenheuer & Witsch.
288 Seiten. 25,70 Euro.
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