Das Archiv als Wunderkammer

Das Literaturmuseum in der Johannesgasse 6 ist ab Samstag, 18.4., jeweils von 10–18 Uhr geöffnet (außer Montag), am Donnerstag bis 21 Uhr
Die Nationalbibliothek erzählt 101 Geschichten über Autoren und Texte.

Fast scheint es so, als würde die Nationalbibliothek der Aura des Originals misstrauen: Im Literaturmuseum, das heute, Samstag, feierlich eröffnet wird, gehen die Handschriften und Manuskripte regelrecht unter Angesicht der Fülle an Materialien, die von Bernhard Fetz, dem Direktor, und seinem Team zusammengetragen wurden.

Der Ansatz war, der herkömmlichen Präsentation von Literatur – jede Menge unleserliche Briefe, ergänzt mit einer Brille des Autors – etwas Überraschendes entgegenzustellen. Das Literaturmuseum arbeitet daher multimedial wie auch vielschichtig mit Reizüberflutung und Häppchentaktik.

Das Archiv als Wunderkammer
ABD0067_20150417 - WIEN - ÖSTERREICH: Innenansicht des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek aufgenommen am Freitag, 17. April 2015, im Rahmen einer Presseführung in Wien. - FOTO: APA/HANS KLAUS TECHT
Es gab zumindest drei gute Gründe, warum Johanna Rachinger, die Generaldirektorin der ÖNB, das ehemalige Hofkammerarchiv in der Johannesgasse, das seit 2006 leer stand, für ihre Institution reklamierte: Der Dramatiker und "Nationaldichter" Franz Grillparzer war Direktor des Archivs gewesen. Zudem hatte schon der Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler, gestorben 2008, als Leiter des ÖNB-Literaturarchivs ein eigenes Museum angeregt. Und kein anderer Ort schien geeigneter als der biedermeierliche, unter Denkmalschutz stehende Zweckbau mit seinen massiven Vollholzregalen.

Diese wurden nun, in Zusammenarbeit mit BWM Architekten und Planet Architects, neu befüllt: nicht nur auf Augenhöhe, sondern auf allen Ebenen; nicht nur mit Büchern und Manuskripten in eingepassten Schaukästen, sondern auch mit Fotos, Neon-Schriftzügen, Installationen, Texttafeln, Mitmachobjekten, Monitoren, LED-Laufschriften, Touchscreens und so weiter. Selbst die Decke dient als Projektionsfläche für Videos.

Das Archiv als Wunderkammer
Honorarfrei
Die Schau setzt chronologisch mit der Aufklärung – und im zweiten Stock an. Denn integraler Bestandteil ist ebendort das einstige Arbeitszimmer von Grillparzer, in das man einen müden, abgeklärten Blick wirft. Die Gedenkstätte verblasst unendlich gegenüber dem Zauber, den Fetz & Team gleich zu Beginn entfaltet haben: mit Diskussionsbeiträgen zur Frage, ab wann ein Text Literatur ist; mit einer Hör-Collage zum Österreichischen; und mit absurden Fundstücken wie Heimito von Doderers Morgenmantel und Arthur Schnitzlers Haarlocke.

Trockener Humor

Mit dem späten 18. Jahrhundert hält man sich nicht lange auf: Schon betritt Nestroy die Bühne, schon geht es um Zensur. Fetz erklärt mit viel Liebe zum Detail, er schafft Verbindungen zur Gegenwart. Und er hat einen trockenen Humor. Auf einer der Regalleitern zum Beispiel fällt ein Textkaskade herab: Grillparzer erzählt, wie er gestern beim Herausnehmen eines Aktes von der obersten Sprosse fiel und sich dabei Hautabschürfungen zuzog.

Das Archiv als Wunderkammer
ABD0078_20150417 - WIEN - ÖSTERREICH: Aussenansicht des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek, aufgenommen am Freitag, 17. April 2015, in Wien. - FOTO: APA/HANS KLAUS TECHT
Der zweite Stock endet mit Franz Kafka, im ersten Stock geht es mit den 1920er-Jahren weiter. Die Ausstellung beschäftigt sich mit den Nutznießern und Opfern des Nationalsozialismus. Zu sehen ist das "Bekenntnisbuch" 1938 mit NS-Glorifizierungen von Waggerl und Weinheber – und direkt darüber das Typoskript von Ernst Jandls lautmalerischem Heldenplatz-Gedicht aus 1962.

Fetz kontrastiert eine "Jedermann"-Installation samt Regiebuch von Max Reinhardt mit einer geharnischten Kritik von Karl Kraus an dem Stück "des Herrn Hofmannsthal". Er kontrastiert Fotos der Burgtheater-Wiedereröffnung 1955 mit jenen der Uraufführung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" 1988 und so weiter.

Alle wichtigen Namen tauchen auf, es gibt 34 Hör- und 22 Videostationen mit insgesamt sieben Stunden Material. Man hat echt viel zu tun. Aber man kann auch mit einem Tablet durch die Wunderkammer rennen. Dann dauert der Besuch zwar nur 90 Minuten, man kriegt jedoch nichts von den Feinheiten mit. Einziger Schönheitsfehler sind Faksimiles in Schaukästen, die noch nicht als solche ausgewiesen sind.

INFO: Das Grillparzerhaus

Biedermeier

Für das Hofkammerarchiv, 1578 erstmals genannt, wurde ab 1843 in der Johannesgasse ein Gebäude errichtet. Direktor war von 1832 bis 1856 Franz Grillparzer. Sein Arbeitszimmer überdauerte die Zeiten. 2006 wurden die Bestände des Archivs ins Staatsarchiv übergeführt. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude wurde um 2,8 Millionen Euro saniert – und um weitere 2,6 Millionen Euro als Literaturmuseum eingerichtet.

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