Neuer Haslinger-Roman: Nahe am Verzweifeln

Neuer Haslinger-Roman: Nahe am Verzweifeln
Interview: Der gebürtige Niederösterreicher Josef Haslinger war selbst überrascht, als er in die tschechoslowakische Nachkriegsgeschichte schaute.

Das sind zwei Gespenster, so lebendig können die gar nicht beschrieben sein:
Das eine Gespenst ist Verleger. Es nimmt uns von Wien mit in den tschechischen Kurort Jáchymov (Joachimsthal). Das radioaktive Wasser im ehemaligen Uranerzbergwerk könnte dem steifen Rückgrat guttun.

Dort trifft es das andere Gespenst. Eine Tänzerin, die nicht Heilung sucht, sondern der Vernichtung nachspürt: die Stollen, in denen ihr Vater gequält wurde. Denn nach dem Krieg hatten die Kommunisten in Jáchymov Lager errichtet, nach Vorbild der Nazis.
Vor dem Tor stand: Durch Arbeit zur Freiheit. Der Apellplatz hieß Apel Plac.
1950!
Die Gespenster bleiben, bis man sich zornig die Frage stellt: Wieso hat denn schon wieder niemand etwas "davon" gewusst?

Dann verschwinden Verleger und Tänzerin, abrupt, und es bleibt die wahre Geschichte von Bohumil Modrý (1916 - 1963), der ein großer Sportler war. Ein Star.
Der Tormann jenes Teams, das die Russen gelehrt hatte, wie man (schnelles kanadisches) Eishockey spielt und dann zwei Mal Weltmeister wurde.

Dem Regime war's gewiss unangenehm wegen der Niederlagen der Russen. Unter dem Vorwand, die Spieler wollten sich in den Westen absetzen, wurden mehrere eingesperrt. Modrý, der studierte Bauingenieur, am längsten. Urteil: 15 Jahre.
Mit Händen musste er Uranerz schaufeln. Nach der Begnadigung war er tot.
Seine Tochter ist in Wirklichkeit Schauspielerin, nicht Tänzerin. Dass sie Vater sehr geliebt hat, dass sie schweres Gepäck durch Leben trägt, kann man dem genauen, eindrucksvoll bedrückenden Erzähler Josef Haslinger - Professor für literarische Ästhetik in Leipzig - glauben; und ihm für "Jáchymov" überaus dankbar sein.

Neuer Haslinger-Roman: Nahe am Verzweifeln

KURIER : Gab es eine ähnlich zufällige Begegnung zwischen Ihnen und Modrýs Tochter wie im Roman?
Josef Haslinger: Ich habe Blanka Modra vor etwa 20 Jahren kennengelernt. Sie spielte in meinem Stück "Karfreitag, 1. Mai", das damals in der "Kulisse" uraufgeführt wurde. Nach den Proben kamen wir ins Gespräch, und schon damals erzählte sie mir vom Schicksal ihres Vaters. Seither hat mich der Stoff nicht losgelassen.

Hätte einer Ihrer Schüler Modrýs Geschichte ohne die Hilfsmittel Verleger und Tochter geschrieben - hätten Sie ihm eine Standpauke gehalten? Hätte es scheitern müssen?

Standpauke? Es bleibt niemandem erspart, selbst herauszufinden, wie er zu schreiben hat. Außerdem gibt es gelungene historische Romane. Mir persönlich war freilich der gegenwärtige Blick auf das Geschehen sehr wichtig.

Der Verleger sagt sinngemäß, die Geschichte müsse ein Buch werden, weil sie zeigt, was Europa ist ... die Tochter entgegnet, es gehe ihr nur um ihren Vater. Ihnen ging es um beides?
Die Generation unserer Eltern war froh, mit viel historischem Glück der Diktatur entwischt zu sein, und uns Kindern waren die autoritären Verhältnisse im Elternhaus, im Internat, in der Schule näher als die Schikanen in den östlichen Nachbarländern. Mag sein, dass auch unser Status als neutraler Staat die Bürger ermuntert hat, nicht so genau hinzuschauen, schließlich schauten die Politiker und Gewerkschafter ja auch nicht so genau hin. Wir haben die Teilung Europas mit erstaunlicher Gelassenheit hingenommen.

Sie sind ja ein geschichtsbewusster und -kundiger Mensch. Waren Sie trotzdem überrascht?
Mir war das Ausmaß der Zwangsarbeit in den Uranminen nicht bekannt. Ich habe den für deutschsprachige Leser vielleicht etwas sperrigen Titel "Jáchymov" auch deshalb gewählt, weil das Wort im ersten Jahrzehnt der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte zum Synonym für die brutale Behandlung politisch Andersdenkender wurde. Sie wurden gleichsam der sowjetischen Atomindustrie geopfert.

Ohne diesen Roman wäre der Prager Ing. Bohumil Modrý a) nur eine Wikipedia-Eintragung oder/und b) völlig egal. Mit Josef Haslingers Buch wird er geehrt, und wir sind nahe am Verzweifeln.
Wieder einmal.

KURIER-Wertung: *****
von *****

Kommentare