"Nebenan“ im Burgtheater: High Noon in der Kaschemme

Rotes Tuch: Martin Kušej besetzte „Nebenan“ nicht um, sondern cancelte die Produktion
Vor erst 20 Jahren spielte der große Robin Williams im Psychothriller „One Hour Photo“ einen einsamen Mann, der innert einer Stunde Filme entwickelt, darunter jene von Nina. Mit der Zeit entwickelt er auch eine starke Zuneigung zu ihr und ihrer gut situierten Familie. Aber er schleicht sich nicht nur in deren Leben ein: Aufgrund anderer Fotos, die er zu vergrößern hat, entdeckt er, dass Ninas Mann fremdgeht.
Daniel Kehlmann erzählt in „Nebenan“ eine ähnliche Geschichte: Ein einsamer Mann hat, weil er für die Help-Hotline einer Bank arbeitet, Zugang zu den Konten. Und so bringt er erstaunlich viel über die Ausgaben der gut situierten Nachbarn in Erfahrung. Im Film von und mit Daniel Brühl kommt es in einer Berliner Kneipe zum Showdown: Er konfrontiert den internationalen Star, eigentlich unterwegs zu einem Casting nach London, mit den Beweisen für die Untreue dessen Frau. Ein Zu-kurz-Gekommener übt Rache an einem Mitglied jener, die sorglos im Wohlstand leben.
Martin Kušej, Direktor der Burg, bat Kehlmann, den Plot nach Wien zu transferieren. Wozu sich dieser nicht in der Lage sah. Man einigte sich auf einen faulen Kompromiss: Die Maisonette mit Privatlift in Berlin Ost gehört einem „Ösi“. Man verzichtete also auf ein zentrales Element des Films, das überhebliche Verhalten der „Wessis“ und das Minderwertigkeitsgefühl der „Ossis“, rettet aber zumindest das Thema Gentrifizierung: Brunos Vater war für den Ausbau aus seiner Wohnung gedrängt worden.
Doch wirklich durchdacht hat man die Geschichte, die am Samstag zur Uraufführung gelangte, nicht. Das Amüsante am Original ist ja, dass Daniel Brühl einen Schauspieler gleichen Namens spielt: Mehrfach gibt es Verweise auf Filme, die er tatsächlich gedreht hat. Bei Florian Teichtmeister fällt das komplett weg. Und für einen Stasi-Film – der Dreh 2005 animierte den Star zur Übersiedelung nach Berlin – engagiert man vielleicht einen Christoph Waltz, aber sicher nicht ihn.
Die Schuhe, in die Teichtmeister (bei der Premiere in einem anderen Outfit als auf den Probenfotos) zu schlüpfen hat, sind zu groß: Die Armani-Sneakers, die ihm Kostümbildnerin Jessica Klimczyk ausgesucht hat, passen einfach nicht.
Viel zu grindig
Man kann auch nicht recht glauben, dass der Star zu früh zum Flughafen aufbricht – und dann eine derart grindige Kaschemme, die Jessica Rockstroh an der Rampe gezimmert hat, einer Businesslounge vorzieht. Da wird gegenüber dem Film zu stark übertrieben: Die mit geschmacklosen Tattoos verunzierte Wirtin der Katharina Pichler stöckelt in Latex und Nutten-High-Heels herum, immer eine Zigarette im Mund, auch beim Aufwischen der Toilette. Dass sie den Kübel auf einem Gästetisch abstellt, um die Reibfetzen auszuwringen, ist also folgerichtig – in einer Boulevardkomödie.
Aber gut, wir haben uns damit abgefunden, dass es in diesem mit Neonröhren beleuchteten Loch kein Tageslicht gibt, folglich auch keine Fenster. Trotzdem stürzt einmal unvermutet ein Modepüppchen (Elisa Plüss) herein, um ein Selfie mit dem Star zu machen.
Bei der Konfrontation zwischen Bruno und Florian aber kopiert Kušej den Film. Er versuchte, wie er im Programmheft erklärt, die Handlung „sehr realistisch“ umzusetzen. Da werden Erinnerungen an „Diese Geschichte von Ihnen“, die Andrea Breth 2016 inszeniert hat, wach. Norman Hacker sieht daher Peter Kurth, dem Film-Bruno, ziemlich ähnlich. Und er dominiert mit mephistophelischem Grinsen das Duell. Auch Teichtmeister überzeugt – wenn er schließlich komplett die Fassung zu verlieren hat. Für Glanzlichter aber sorgt Arthur Klemt mit Kurzauftritten zweier Abgehängter. Erstaunlich viel Jubel.
Der Direktor: Martin Kušejs Vertrag läuft im August 2024 aus. Die Direktion wurde daher ausgeschrieben (Bewerbungsfrist: 17. 10.). Kusej will weitermachen – aber nur über die gesamte Distanz.
Die Politik: „Nebenbei“ könnte ein Argument liefern: Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer und Sektionsleiter Jürgen Meindl waren bei der Premiere. Die Entscheidung soll bis Jahresende fallen.
Die Optionen: Die Schweizerin Barbara Frey, zuletzt Chefin der Ruhrtriennale, oder Marie Rötzer (erfolgreich in St. Pölten) wären durchaus denkbar.
Kommentare