Nachwelt - Von Marlene Streeruwitz

Nachwelt - Von Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz' Roman "Nachwelt" ist ein grandioses Doppelporträt von Anna Mahler selbst und Margarethe, als moderne Frau zwischen Job, Erziehung und Selbstverwirklichung.

Zehn Tage verbringt Margarethe Doblinger aus Wien, eine erfolglose Dramaturgin Ende dreißig, im amerikanischen Santa Monica. Zehn Tage begleiten Leserinnen und Leser des als "Reisebericht" untertitelten Romans sie auf ihrer doppelgleisigen Suche.

Margarethe ist nach Los Angeles gekommen, um die Biografie Anna Mahlers zu schreiben, der Tochter der als femme fatale berühmt gewordenen Alma Mahler-Werfel und des nicht minder bekannten Musikers Gustav Mahler. Anna Mahler, die Tochter: Zeitlebens steht und verkümmert sie im Schatten der Eltern, probiert sich aus in Künsten und Liebschaften. Sie wird Bildhauerin, heiratet fünf Mal, unter anderem den Verleger Paul Zsolnay. 1939 floh sie vor den Nazis und starb – kurz vor der ersten, umfassenden Ausstellung ihrer Kunstwerke – 1988 in London. Dieser Frau möchte die Romanfigur Margarethe nachspüren und ihr eine Biografie widmen.

Also reist sie von Wien nach London – und eben Santa Monica. Sie führt Interviews mit Geliebten, Freunden und Künstlerkollegen von Anna Mahler. Sie trifft auf Albrecht Joseph, den letzten Ehemann, früher Sekretär von Franz Werfel und Thomas Mann, jetzt altersmüde, geistig verwirrt und ohne Unterlass ein Stofftier liebkosend. Auch mit dem Komponisten Ernst Krenek spricht Margarethe, dem ersten Ehemann, den sie mit 18 heiratete. Die Interviews sind Transkriptionen der Gespräche. Die Menschen erzählen von ihrer Perspektive einer Anna Mahler, denn jeder sah sie mit anderen Augen. So entsteht ein faszinierendes Bild der Künst­lerin, gebrochen, unscharf und wie ein Kaleidoskop, dessen Splitter nicht wirklich zusammenpassen. Anna Mahler ist die eine Spur, der die Protagonistin Margarethe Doblinger folgt. Die zweite ist nicht minder wichtig für den Roman "Nachwelt", denn es ist die Suche nach sich selbst. Margarethe steckt in einer Sinnkrise, sie fühlt sich von ihrem Ehemann im Stich gelassen, der sie ursprünglich nach Los Angeles begleiten wollte. Margarethe empfindet sich fremd und allein, sie trinkt und macht sich Gedanken, die wie eine bohrende Spirale in ihre innere Leere führen.

Nachwelt - Von Marlene Streeruwitz
Ein Königreich für ein Bild!

Auch ihre Tochter Friederike, "Friedel", scheint ihr zu entgleiten, der einzige Mensch, der ihr beibrachte, "was Liebe ist. Eigentlich. Von einem dieser Männer war das nicht zu haben gewesen." Margarethe erkennt nicht nur hier Parallelen ihrer eigenen Existenz zum Leben der Anna Mahler. Auch Margarethe versuchte sich in der Kunst und in wechselnden Ehen zu verwirklichen. Auch sie ahnt ein Scheitern. Ihre Tage in Santa Monica werden minutiös und detailwütig beschrieben: Jeder Schritt in einer Shoppingmall, jede Geste im Coffeeshop thematisiert Margarethes Tasten und Suchen. Marlene Streeruwitz – 1950 in Baden bei Wien geboren – nutzt dafür kürzeste, manchmal wie abgeschlagen wirkende Sätze. Oft fehlen die Verben oder Frage- und Ausrufungszeichen. Dadurch entsteht ein treibender, schreiender Duktus, der Margarethes Gefühlswelt großartig einfängt: Streeruwitz’ Sätze sind wie Hammerschläge.

Als der greise Albrecht Joseph ihr seine Liebesbriefe von Anna Mahler zu lesen gibt, begreift Margarethe die Unmöglichkeit ihrer Aufgabe: Sie bricht ihr Projekt ab und reist zurück nach Wien – traurig, aber befreit.

Marlene Streeruwitz gelingt mit ihrem Roman "Nachwelt" ein grandioses Doppelporträt: Anna Mahler selbst und Margarethe, als individualisiertes Beispiel der modernen Frau zwischen Job, Erziehung und eigener Persönlichkeitsentfaltung – beide werden auf nie gesehene Weise gezeichnet: ehrlich, intim, mit all ihren Brüchen, Ängsten und Träumen.

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