Mutter kann nicht sagen: "Ich hab’ dich lieb"
Leben heißt Staunen, sagt die Amerikanerin Elizabeth Strout, und ja, sie meint damit auch jenen wunderbaren Spitalsarzt in ihrem neuen Roman "Die Unvollkommenheit der Liebe", an den sich eine sehr alte Dame wendet:
"Ich habe Blähungen, das ist mir so peinlich. Was soll ich machen?"!
Der wunderbare Arzt, der gewiss mit vielen Todkranken zu tun hat, schüttelt teilnahmsvoll den Kopf: "Das ist eine sehr harte Nuss."
Leben heißt Staunen, und das wird man oft, wenn Strout über die Liebe schreibt, so "neu", so zart, so zielgerichtet.
Eine Frau um die 30, verheiratet in Manhattan, zwei Kinder, liegt im Spital. Man weiß nicht, was Lucy fehlt.
Mutter fehlt.
Schnell weg
Mutter kommt, 25 Jahre gab es keinen Kontakt mit der Tochter, und setzt sich ans Fußende des Krankenbettes. Fünf Tage sitzt sie hier, schläft kaum,beschützt ihre Tochter.
Mutters Stimme hat gefehlt. Sie wird reden, auch wenn es in ihren Erzählungen immer um kaputte Ehen in der Nachbarschaft geht.
Es wird auch deshalb (etwas) düster und deprimierend, weil diese Mutter ihre Tochter früher oft schlug. Und als Lucy Brüste bekam, spottete Mutter, sie sehe aus wie eine Kuh. Man lebte in einer ländlichen Kleinstadt in Illinois, in der Garage eines Onkels. Zeitungen? Bücher? TV? Nie. Lucy nützte schulische Erfolge, um rasch wegzukommen. Sie schaffte den Sprung. Leidet sie deshalb?
Nun versucht sie, von ihrer Mutter einmal, einmal nur!, zu hören: "Ich hab’ dich lieb." Versteht man, dass diese Frau das nicht sagen kann?
Versteht man, dass Lucy es mittlerweile "in Ordnung" findet und im Schweigen auch Verbindendes sieht?
Aus finsterstem Leid wird Freude. Es bleibt immer ein Licht brennen. Pulitzer-Preisträgerin Strout geht es nicht darum, ob etwas "gut" ist oder "böse". Sondern um das dumme Leben, in dem sich Trauma auf Trauma stapelt. Man staunt, weil darüber so leicht und mächtig geschrieben wurde.
Einer der schönsten und klügsten Romane des Jahres bisher.
Elizabeth Strout:
„Die Unvollkommenheit der Liebe“
Übersetzt von Sabine Roth.
Luchterhand Verlag. 208 Seiten. 18,50 Euro.
KURIER-Wertung: ***** (das ist die Höchstwertung)
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