Man hört einen durchdringenden Schrei, dass es fast wehtut. Einen Schrei aus tiefster Seele, noch ehe man ihn sieht.
Wie Edvard Munch (1863-1944) in seinem berühmtesten Gemälde – zwischen 1892 und 1910 in vier verschiedenen Fassungen entstanden – und einem der meistkopierten Werke überhaupt Trauma und Entfremdung eingefangen hat, verarbeitet Tracey Emin in ihrem Video „Hommage to Edward Munch and All My Dead Children“ (1998) furchtbare Traumata – etwa ihre Erfahrungen mit Abtreibung und Fehlgeburt.
„Ich flüstere meiner Vergangenheit zu. Habe ich eine andere Wahl?“, sagt die Britin, die 1999 für den Turner-Prize nominiert war und bei der Gelegenheit ihr eigenes, zerwühltes Liebesnest ausstellte, inklusive benutzter Kondome, leerer Schnapsflaschen, Zigarettenstummel und blutigem Schlüpfer.
„Der Schrei“ findet sich auch bei Andy Warhol in einer Serie von Siebdrucken wieder.
Und bei Georg Baselitz: Der bezieht sich mit seinem Kopfbild, „Edvard“ (1987/88) betitelt, explizit auf den norwegischen Jahrhundertwendestar.
Es zerrt immer
In ihm sieht er den an sich zweifelnden und manchmal verweifelnden Maler und in dessen nächtlicher Einsamkeit das künstlerische Schicksal. Baselitz: „Es gibt in Munchs Bildern eine Nervosität, eine Aggressivität, eine Spannung, die man vergleichen kann mit derjenigen in Geisteskranken-Bildern, etwas wahnsinnig Naives und Reißendes: Es zerrt immer.“
Abgründe von Einsamkeit machen auch die Großformate des schottischen Malers Peter Doig, Jahrgang 1959, spürbar. Sein „Echo Lake“ (1998) ist die große, dunkle Komposition einer nächtlichen Szene. Ganz Stimmung.
Und Melancholie, die doch nur ein Sammelbegriff für Krankheit, Unglück, Tod und Trauer ist, und die das Leben Munchs von Anfang an prägte, häufigstes Motiv seiner Kunst, in der er seine an der Welt und sich selbst leidende Seele offenbart.
Doig interessiert an Munch der spezielle Farbauftrag, wie der Norweger bei klirrender Kälte gemalt hat, wie er seine Bilder in den Schnee geworfen oder im Regen stehen gelassen hat, um ganz neue Farbwirkungen zu erzielen.
„Edvard Munch. Im Dialog“ ist bereits die dritte Munch-Ausstellung der Albertina in den letzten Jahren. 2003 wurde sein Gesamtwerk beleuchtet, 2015 seine Druckgrafik.
Diesmal ist der Bogen gespannt von den frühen impressionistischen Hauptwerken bis zu den düsteren Bildern, in denen er sich – gezeichnet von der Spanischen Grippe – selbst porträtiert in mitternächtlicher Einsamkeit.
Und diesmal wird Munch präsentiert im Gegenüber zu den Arbeiten von sieben bedeutenden Gegenwartskünstlern, die von ihm beeinflusst waren und sind. „Wir zeigen, wie brisant, wie relevant und wie aktuell Munch vor allem für die Kunst unserer Zeit ist“, sagt Albertina-Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder.
Viele der präsentierten Gemälde, Zeichnungen und Holzstiche sind Sinnbilder der Einsamkeit, Aussichtslosigkeit, Verlorenheit in einer fremden, unverständlichen Welt und in einem Körper, der von Trieben, Zwängen und Süchten gepeinigt wird.
Schatten mit Eigenleben
Ob „Pubertät“ (1894/’95), Munchs faszinierendes Bild eines auf der Bettkante sitzenden nackten Mädchens, dahinter ein drohender Schatten, der ein Eigenleben zu besitzen scheint, oder Verrätseltes und fast Surreales wie in „Ungebetene Gäste“, „Abendstimmung“ oder „Sehstörung“, Leihgaben aus dem neuen Munch Museum in Oslo:
Die von Dieter Buchhart und Antonia Hoerschelmann kuratierte Ausstellung veranschaulicht, wie wegweisend und inspirierend das reiche Oeuvre des Mitbegründers von Symbolismus und Expressionismus für die moderne Kunst ist. Bewusst ohne Nebeneinander von Vorbild und Interpretation, sondern räumlich getrennt. Schließlich handelt es sich um eigenständige Werke.
Seelenverwandte
Die Schweizerin Miriam Cahn findet „Kunst interessant, wenn sie versucht das Jetztsein – das Leben – zu erwischen“.
„Und sie nützt das Unheimliche der Farbwelt Edvard Munchs“, so Klaus Albrecht Schröder, „um ihre feministische Sicht der Welt auszudrücken.“ Bei Miriam Cahn steht menschliche Emotion von ohnmächtiger Verzweiflung und Angst bis hin zu zügelloser Aggression im Mittelpunkt. Als politische Malerin beschäftigt sie sich kritisch mit Themen wie Krieg, Gewalt und Feminismus.
Die 72-Jährige setzt das Trauma der Vertreibung, die existenziellen Ängste ins Bild. Ihre Figuren mit oft entblößtem Körper – im Gemälde „Hände hoch!“ (2014) strahlen sie weiß vor rotem Hintergrund – stehen sinnbildlich für das nackte Überleben.
Der Pop-Art-Wegbereiter Jasper Johns hat ein Detail aus Munchs „Selbstporträt zwischen Uhr und Bett“ Munchs aufgegriffen: das moderne Muster einer Bettdecke in seinem Siebdruck „Corpse and Mirror“ (1976).
Expressive Gesichter
Berührend bis verstörend wirken schließlich die Bilder der Südafrikanerin Marlene Dumas, die seit den 1970er Jahren Menschen und Gesichter expressiv darstellt und sich mit Themen wie Liebe, Tod, Identität und Trauer befasst.
Hat Munch die Bedrohung des Mannes durch die Frau, der Femme fatale, zu einem Hauptthema seines Zyklus „Der Lebensfries“ gemacht, so deutet Marlene Dumas diese Ikonografie in Bilder kolonial-rassistischer Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung Afrikas um.
Gute Kunst ist Emotion, provoziert Emotion und liefert Stoff für Diskussion. Das ist in dieser Schau garantiert.
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