Marc Restellini, Herausgeber eines Modigliani-Werkverzeichnisses und Kurator der nun mit einem Jahr Verspätung realisierten Schau in der Wiener Albertina (bis 9. Jänner 2022) sieht Modigliani nichtsdestotrotz als einen der großen Erneuerer der Moderne an. In der Albertina untermauert er diese These, indem er die Beziehungen des Künstlers, der 1906 aus dem italienischen Livorno nach Paris übersiedelte, zu Pablo Picasso und zu Constantin Brancusi hervorstreicht.
Modigliani war beiden Künstlern und ihrem Kreis freundschaftlich verbunden; wie Restellini im Katalog eher nebenbei anmerkt, waren in den Pariser Zirkeln damals auch gemeinsame „Séancen“ mit Haschisch und anderen Drogen keine Seltenheit. Was den Künstlern in ihrem Schaffen aber wirklich neue Türen öffnete, war das, was die Schau im Untertitel „Die Revolution des Primitivismus“ nennt: In außereuropäischer Kunst in den Kolonialmuseen, aber auch in archaischen Werken aus Europa glaubte man eine Art Urkraft zu entdecken, die sich in eine neue, vom akademischen Ballast befreite Kunst übertragen ließ.
Dass dieser für die moderne Kunstgeschichte folgenreiche Akt der kulturellen Aneignung in vielen Fällen ein „produktives Missverständnis“ war, ist seit Langem bekannt. Wenngleich einige Künstler durchaus politisch sensibilisiert waren und dem Kolonialismus kritisch gegenüberstanden, nahmen sie die „fremde“ Kunst doch sehr selektiv wahr und projizierten eigene, romantische Vorstellungen darauf. Durch die verstärkte Fokussierung auf die koloniale Vergangenheit von Museen hat das Thema aktuell wieder an Brisanz gewonnen.
Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder verteidigt den Gebrauch des Begriffs „Primitivismus“ dennoch: Er werde als Stilbegriff für die moderne Strömung ab 1905/’06 gebraucht und nicht, um außereuropäische Kunst als primitiv zu brandmarken.
Dass der Begriff in der Außenwerbung ohne Erläuterung zirkuliert und damit „normalisiert“ erscheint, kann man trotzdem kritisieren. Die Ausstellung selbst agiert aber proaktiv, indem sie in Wandtexten deutlich klarstellt, dass die außereuropäischen Werke in der Tat in den jeweiligen Kulturen „Hochkunst“ waren – und dass sie oft infolge von Raubzügen in den Westen kamen.
Die Konversation der außereuropäischen und archaischen Kunst mit Modigliani, Picasso, Brancusi oder André Derain – die sich daraus weniger Gewinn als eine Provokation des saturierten Publikums erhofften – lässt sich in der Schau dann in einer intensiven und konzentrierten Weise nachvollziehen. Modigliani, der sich bis 1914 primär als Bildhauer betätigte, forschte da an strengen, reduzierten Köpfen und an Karyatiden – Frauenfiguren, die als Architekturelement etwa die Last eines Gebäudeteils tragen.
Mit der nichtwestlichen Kunst als Leitschnur – Modigliani begeisterte sich besonders für Khmer-Statuen im damals schon verstaubten Palais du Trocadéro, aber auch für alles Ägyptische – gelangte der Künstler zu einer formalen Reduktion und zu einer geschärften Präsenz seiner Figuren: Auf faszinierende Art vermittelt sich der fast körperlich spürbare Sog der Formen auf Papier fast im gleichen Maß wie in Skulpturen und später in Gemälden.
Der Jude Modigliani, der sich für die Kabbala und weitere esoterische Strömungen interessierte, zielte damit auch auf eine spirituelle Dimension ab – wie dem Mexikaner Diego Rivera, der in der Schau in zwei Porträts Modiglianis zu sehen ist, schwebte ihm ein Synkretismus vor, die Zusammenführung tradierter und moderner Denkströme, erklärt Kurator Restellini.
Berühmt wurde Modigliani dann aber mit Akten, die er auf Anraten des Galeristen Leopold Zborowski anfertigte. Deren Ausstellung 1917 wurde zum Skandal (man sah Schamhaare!), die Aufregung dämpfte die Risikofreude des Malers erheblich.
Die Ausstellung folgt ab hier stärker der Biografie – es beginnt eine „klassizistische“ Phase, geprägt von Modiglianis Liebe zu Jeanne Hébuterne. 1919 malte er sie noch einmal, nackt und schwanger. Wenig später waren beide tot. Den Moment der Intimität macht das Bild noch immer gegenwärtig, mehr als hundert Jahre später.
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