Michela Murgia: Will jemand in den Abgrund, um vom Himmel zu träumen?

Michela Murgia
"Chirú:": Stolpersteine auf dem Weg zu einem Musikstudenten und seiner 20 Jahre älteren Lebenslehrerin.

Es reißt einen hin und her.

"Chirú" ist ein so wertvoller Roman über eine Frau, 38 ist sie, und einen 18-Jährigen. Sie eine bekannte Theaterschauspielerin, er Student am Konservatorium (Geige).

Chirú bittet sie, seine Lehrerin zu sein, seine Mentorin, seine Lebenslehrerin.

Das erstaunt und interessiert angenehm, weil so etwas heute nicht mehr oft vorkommt. Die Alten haben keine Zeit oder wollen dafür keine Zeit mehr haben, den Jungen scheint es lieber, "von selber" draufzukommen, ohne Begleitung.

"Chirú" reißt einen hin und her, da kann schon passieren, denn andererseits kommt das Buch in gefährliche Nähe zu Paulo Coelho (von dem übrigens heuer, am 27. September, schon wieder ein Roman erscheint: 120 Seiten "Der Weg des Bogens").

Zustände

Michela Murgia – seit "Accabadora" (2010) über Sterbehilfe auf Sardisch eine literarische Berühmtheit – lässt Lehrerin und Schüler viel miteinander reden; und da kann schon passieren, dass alle erfahren:

"Wer unglücklich ist, hat alles zu gewinnen, denn vom Abgrund aus kann man vom Himmel träumen."

Alle Elenden werden jetzt sehr dankbar für diese Erkenntnis sein.

Aber immerhin ist es ein Satz mit lebenden Wörtern.

Schlimmer klingt es, wenn gleich am Anfang des Romans die einsame, unterkühlt wirkende Lehrerin namens Eleonora über "Zustände von Zufriedenheit" philosophiert, die destabilisierend sein können ... und sich über "Strukturvarianten" Gedanken macht.

Das schreckt ab, muss aber wohl so beginnen. Denn danach geht es um Gefühle. Zu Gefühlsmenschen werden Chirú und Eleonora erst erzogen, wechselseitig, und dass jemand hinter dir steht und an dich glaubt, dass jemand dich begleitet – und auch noch Mutter ist? und auch Geliebte? –, kann gefährlich werden.

Also alles in allem eh ein bewegender Roman.

Etwas mehr Ungesagtes, etwas mehr Schweigen wäre besser gewesen.

Michela Murgia:
Chirú
Übersetzt von Julika Brandestini.
Wagenbach Verlag.
208 Seiten.
20,60 Euro.

KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

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