Michael Haneke: „Im schönsten Fall: Trost“
Verstörende Motive des mit emotionaler Distanz erzählten Dramas finden sich in allen Filmen von Michael Haneke. Sie ergeben ein Mosaik aus Szenen, in denen wir Menschen dabei zusehen, wie sie beklemmend nah an emotionalen Abgründen, an moralischen Grenzen agieren.
Was ist der Tod? Was ist Gewalt? Und vor allem: Wodurch wird Gewalt verursacht? Das sind Fragen, die Haneke immer wieder stellt. Filme wie „Die Klavierspielerin“, „Caché“, „Das weiße Band“ oder „Liebe“ wurden und werden von der Kritik gefeiert – vor allem in Frankreich, der zweiten künstlerischen Heimat des Regisseurs und Drehbuchautors. Sein bisher letzter Film „Happy End“ macht klar, dass es für Haneke kein Happy End gibt – schon gar nicht für sein künstlerisches Schaffen. Umso spannender ist es, dass man ab morgen, Montag, Hanekes gesammelte Drehbücher in einem imponierend dicken Band nachlesen kann. Eine Sammlung genau beobachteter Momentaufnahmen von menschlichen Wesen, die zu vielem fähig sind: zur Brutalität, aber eben auch zur Liebe.
Auch wenn Hanekes Blick auf die Welt pessimistisch sein mag, menschenverachtend ist er auf keinen Fall.
KURIER: Wie gehen Sie an Ihre Drehbücher heran?
Michael Haneke: Ganz konventionell. Irgendetwas im täglichen Leben fällt mir auf, berührt mich, ärgert mich. Dann bleibt mein Interesse an dieser Sache hängen und ich sammle Beobachtungen und Einfälle, die zum Umkreis dieser Sache gehören. Man wird hellhörig, wenn einem ein Thema im Kopf sitzt. Plötzlich höre und sehe ich überall Hinweise, die ich notiere. Irgendwann hab ich das Gefühl, genug Material angehäuft zu haben. Dann beginnt die Konstruktion. Jeder Einfall bekommt ein kleines Zettelchen und an der Pinnwand zerbreche ich mir den Kopf, wie ich das alles in eine Ordnung bringe. Dann geht’s darum, die Vielzahl der Details dramaturgisch zu organisieren. Meistens fallen dabei zwei Drittel der Aufzeichnungen wieder weg. Das ist die eigentliche Arbeit und die kann manchmal recht mühsam sein. Das eigentliche Schreiben des Drehbuchs und der Dialoge ist nach dieser Knochenarbeit dann das Vergnügen.
Sie gelten als Gesellschaftskritiker, der den Spuren der „Gefühls-Vergletscherung“ unserer Zeit folgt ...
Diesen Begriff werde ich wohl niemals los! Ich hab in einem Interview zu einem meiner ersten Filme diese Formulierung gebraucht. Journalisten lieben Schubladen, und so klebt mir seit Jahrzehnten das Etikett des Spezialisten für die „Vergletscherung der Gefühle“ auf der Stirn. Ich habe gelernt, damit zu leben. Natürlich ist die Kälte unserer Gesellschaft ein Thema meiner Arbeit. Wir sind ja nur Chronisten dessen, was wir täglich erleben. Ich habe kein politisches Programm und bin schon gar kein Verfechter einer Ideologie. Meine politische „Meinung“ äußere ich ausschließlich als Staatsbürger. Als Autor habe ich das nie getan und würde es nie tun. Ich hasse kinematographische Propaganda. Als Autor kann ich nur genau hinschauen auf das Leben. Und was man da sieht, ist leider nicht immer erfreulich.
War es vielleicht mit ein Grund für Sie, Ihre gesammelten Drehbücher in Buchform herauszubringen, damit man die Vielfalt Ihrer Arbeit besser nachvollziehen kann?
Das Schöne an einem Buch ist ja, dass man es zur Hand nehmen und auch weglegen kann, wann man will. Für Menschen, die meine Filme mögen, kann es reizvoll sein, gelegentlich nachzuschauen, wie diese oder jene Szene war und vielleicht zu überprüfen, wieweit Buch und Film sich gleichen. Ich habe vor Jahren in New York auf einem Flohmarkt einen Verkaufsstand gefunden, an dem es ausschließlich Drehbücher bekannter Filme gab. Ich fand das begeisternd und habe mir sofort eine ganze Tragetasche davon gekauft. Ich denke, es ist für den Filmliebhaber immer spannend und anregend zu sehen, wie Film in seinem ursprünglichsten Stadium aussieht. Und was die „Vielfalt meiner Arbeit“ angeht, hoffe ich natürlich, dass das Buch auch ein Spiegel meiner Entwicklung ist. Wie hat sich meine Formensprache, wie habe ich selber mich im Laufe dieser dreißig Jahre meines Film-Lebens verändert? Ich habe ja relativ spät, im Alter von sechsundvierzig Jahren, begonnen, Filme fürs Kino zu machen. Ich habe eine lange Lehrzeit als Theater- und Fernsehregisseur absolviert, bevor ich es gewagt habe, mich mit eigenen Kinofilmen vorzustellen.
Wie weit ist Ihre Arbeit als Filmemacher vom Medium selbst beeinflusst? Gibt es für Sie wesentliche Unterschiede zwischen herkömmlichen Kino- und Fernsehformaten und dem derzeit boomenden Serienkult von Netflix, Amazon und Co.?
Natürlich gibt’s da Unterschiede. Die Schnelllauftaste der Fernbedienung hat die Welt der Kunstrezeption revolutioniert. Das können Sie als Fortschritt oder als Katastrophe sehen. Oft wünschte man sich ja auch im Theater, in der Oper und im Kino einen Forward-Button, um einer langweilig ausgewalzten Szene oder einer schlecht musizierten Passage schneller entkommen zu können.
Wie sehr haben sich dadurch die Zuschauergewohnheiten verändert?
Die Zuschauergewohnheiten haben sich schon in den Fünfzigerjahren durch das gute alte Fernsehen erheblich verändert. Man geht nicht mehr ins Kino, um sich einem Erleben auszuliefern, sondern das Werk wird dir ins Wohnzimmer, in die Küche, an den Wirtshaustisch geliefert. Und dort schaut man anders zu als im abgedunkelten Saal. Das hat zu anderen Erzählformaten geführt. Die neuen TV-Formate bringen zudem für die Geschichtenerzähler zusätzliche Erweiterungen ihrer Möglichkeiten. Man kann jetzt auch lange Geschichten erzählen, ohne auf das Hundert-Minuten-Limit der Spielfilmlänge Rücksicht nehmen zu müssen, was für einen Autor großen Reiz haben kann. Die Streamingdienste, über die heute jeder Haushalt verfügen kann, haben unsere Sehgewohnheiten verändert.
Haben sich dadurch auch Ihre Sehgewohnheiten geändert?
Natürlich. Ich sehe auch mehr Filme zu Hause als im Kino. Diese Entwicklung ist unumkehrbar. Der Glaube, das Kino als Gemeinschaftserlebnis im Saal habe eine Zukunft, ist angesichts der medialen Entwicklung eine sympathische Naivität.
Kann man in gewissem Sinne auch Ihre Drehbücher in der jetzigen Buchform als Serie lesen?
Da wäre ich nicht darauf gekommen – aber man kann sie sicher auch so lesen. Die Welt um uns ist
in ständiger Wandlung, wie sollte ich mich nicht wandeln? Ich denke, man kann an einzelnen Themenkreisen in meiner Arbeit leicht sehen, wie ich mich im Lauf meiner Arbeit bemühe, die fortschreitende Entwicklung der aktuellen Fragen zu reflektieren. Das Thema Medien und deren Entwicklung ist seit „Benny’s Video“ fast in jedem meiner Filme präsent. Weil ich täglich mit deren Realität konfrontiert bin. Ebenso das Thema Migration. Seit „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ bis zum letzten Film „Happy End“ ist sie zentraler Bestandteil meiner filmischen Arbeit. Ich denke, das ist ja auch die Aufgabe von Geschichtenerzählern: die Welt, die wir erleben, beschreibbar und damit für uns wie für unsere Leser und Zuschauer erkennbarer zu machen. Das versuchen wir ja alle, die wir Bücher schreiben oder Filme machen. Das ist es doch, was Gemeinsamkeit stiftet. Und im schönsten Falle Trost.
(Von Gabriele Flossmann)
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