Statt Soldaten ließ man den Hunger einmarschieren
Wenn man lacht, vergeht die Angst.
Bloß diese eine Stelle greifen wir heraus – und man wird den Roman des mit Literaturpreisen überhäuften russischen Schriftstellers über den Zweiten Weltkrieg dann lesen wollen, hoffentlich.
Also lassen wir Daniil Granin, der heuer im Jänner 96 Jahre alt wurde, erzählen:
An der Front bei Leningrad war ein russischer Spähtrupp auf einem Waldweg unterwegs. An einer scharfen Biegung stand er von Angesicht zu Angesicht Deutschen gegenüber, einem ebenso kleinen Spähtrupp.
Beide Gruppen waren verwirrt – die Deutschen sprangen in den Straßengraben auf der einen Seite, die Russen in den Graben auf der anderen Seite.
Aber ein junger deutscher Soldat, der ließ sich in seiner Aufregung bei den sowjetischen Soldaten fallen und merkte es nicht gleich.
Erst langsam kamen ihm die Soldaten mit den Schiffchen und Sternchen auf der Uniform seltsam vor. Er schrie auf, und in seiner Angst gelang ihm ein rekordverdächtiger Sprung in den Straßengraben hinüber zu den Seinen.
Auf die Rübe
Bei diesem Anblick begannen die Russen zu lachen, und die Deutschen lachten ebenfalls. So saßen sie mit vorgestreckten Maschinenpistolen einander gegenüber und lachten aus vollem Hals.
Das Lachen verband.
Alle krochen davon.
Es fiel kein einziger Schuss.
Steht in "Mein Leutnant", Granins Buch für den Frieden, dem Buch gegen Krieg (und gegen Stalin), dem Buch der Erinnerungen an die erschossenen, verbrannten, zerrissenen Kameraden.
Als junger Ingenieur hatte er sich begeistert zur Volkswehr gemeldet, um den Nazis "eins auf die Rübe zu hauen". Es dauerte nur Tage, bis Daniil Granin merkte, dass die Rote Armee vor allem beim Rückzug stark war.
Und: Der Krieg ist ein Fleischwolf. Es ist reiner Zufall, wenn er jemanden vergisst zu faschieren.
Granin war an der Leningrader Front, als die Stadt 900 Tage belagert wurde. Man schätzt, mehr als eine Million Bewohner der Stadt starben – die meisten verhungerten. Was von Hitler so geplant war. Daniil Granin ist sogar sicher – im Gegensatz zu Historikern, die nicht dort waren –, dass Leningrad am 17. September 1941 völlig ungeschützt war. Das Tor war offen. Die Deutschen hätten problemlos einmarschieren können.
Sie durften nicht.
Der Befehl aus Berlin lautete: Der Hunger musste einmarschieren.
Gekochter Gürtel
Als Überlebender der Belagerung hielt Daniil Granin 2014 im deutschen Parlament eine Rede. An der Front war ihm Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, gegenübergestanden.
Der Russe berichtete, wie die Leningrader den Leim von den Tapeten kratzten, wie sie Ledergürtel kochten und von toten Kindern Fleisch für die noch lebenden Kinder abschnitten ...
"Mein Leutnant" ist schonender. Aber es reicht, um zu sehen, wie der Krieg die Menschen verheizt; und wie alle Kriege gleich sind für jene Soldaten, die sich ins Jenseits aufmachen müssen.
KURIER-Wertung:
Kommentare