Anders als „Rise Like A Phoenix“, der ganz klar auf einen Sieg bei diesem speziellen Event hinkonstruiert ist, taugt „Wasted Love“ wenig als Hymne. Es ist aufs erste Hinhören ein depressiver Song, keiner, der einen aufrichtet. Die Schwarz-Weiß-Inszenierung auf der Bühne, durchaus kontroversiell diskutiert, unterstrich das auch noch.
Überraschungseffekte
Conchitas Siegessong hingegen hatte eine positive Message, konnte Minderheiten und Mehrheiten gleichermaßen berühren. Jeder versteht die Sehnsucht nach einem Neuanfang, dazu lässt man sich auch gern mit einer James-Bond-ähnlichen Melodie motivieren. Dazu kam die Kuriosität, dass eine bärtige „Frau“ das gesungen hat - also jemand, den man eher mit einem Spaß-Act erwarten würde.
Der Faktor Überraschung ist auch einer der Gründe für JJs Erfolg: Wenn man Videos auf YouTube gesehen hat, wie Menschen auf „Wasted Love“ reagieren, dann war die vorherrschende Emotion Erstaunen. Der Song ändert zwei Mal komplett seine Richtung. Und das ist eine Besonderheit beim Song Contest, bei dem sich viele Länder seit langem auf bewährte Muster verlassen. Einmal hier ein Halbtonsprung, einmal hier ein Dance-Break. Das war’s dann schon. Deswegen sind Comedy-Nummern wie heuer von Schweden oder Estland so beliebt, weil sie über dieses Muster geschickt hinwegtäuschen (Schweden zum Beispiel hatte einen klassischen Halbtonsprung).
Nicht nur "Oh oh oh"
Zum Finale hin hörte und las man immer öfter: Aber ist „Wasted Love“ nicht zu nahe dran am Vorjahressieger Nemo und „The Code“? Tatsächlich brachte der Beginn der Show, als der Song noch einmal erklang, in Erinnerung, wie viele hohe Töne da doch auch vorgekommen sind. Allerdings eben ganz anders: Nur mit dem leichter hoch auszustoßenden „Text“ „Oh Oh Oh“ und - das merkt man daran, dass man „The Code“ einfach nachsingen kann - nicht von einem ausgebildeten Countertenor. Aber Musikfans und Song-Contest-Fans sind nicht immer so differenziert, die Gefahr, als Kopist dazustehen, blieb virulent. Und genau deswegen erwies es sich als geniale Entscheidung, den Beitrag in Schwarz-Weiß zu inszenieren. Denn so erhielt „Wasted Love“ den theatralischen Charakter, den sein Klang erfordert - und setzte sich nicht nur klar ab von Nemo, sondern auch vom Rest der Show.
Große Brösel
Und dieser Rest der Show war der letzte auslösende Faktor für JJs Sieg. Nicht, weil alle anderen Teilnehmer so viel schlechter waren. Sondern weil es ein so abwechslungsreicher, durch Genres hüpfender Song Contest war, wie es ihn schon lange nicht gegeben hat. Das war für das Publikum von Vorteil, weil es nur selten langweilig wurde (wenig Klo- und Glasauffüll-Pausen). Einmal hier Pornopop aus Finnland oder Malta, einmal da Ballade mit Herzschmerz aus Israel, Griechenland oder Frankreich, dann wieder Spaßmusik aus Estland oder Schweden. Und dazwischen ein paar unterhaltsame Seltsamkeiten oder der beachtliche Versuch, nationale Folklore oder Mythen auf die ESC-Bühne zu bringen.
Aber auch für JJ war das von Vorteil, weil sich die Punkte bei der Jury-Wertung nicht auf die immer gleichen zwei oder drei Länder konzentrierten, was schnell uneinholbare Punktmengen anhäuft. Am Samstag gab es die berühmten „Douze Points“, also die Höchstpunktezahl von zwölf immer wieder für jemand anderen. Aber Österreich bekam sehr oft auch acht oder zehn. Und gewann die Jurywertung sozusagen mit dem Einsammeln von etwas größeren Bröseln. Und auch die Publikumswertung unterschied sich teilweise krass von den vorherigen Tendenzen.
Ein Symbol
Das tat dem Song Contest als TV-Sendung gut. So spannend war es lange nicht - auch wenn man nicht für Österreich mitfieberte.
Der Sieg von JJ hat den ESC auf gewisse Weise restauriert. Die Ausgabe von 2024 war ein Desaster, Mobbing, Antisemitismus, Disqualifikation und die Unfähigkeit der EBU, der Turbulenzen Herr zu werden - all das drohte, das Event nachhaltig kaputt zu machen. JJs Sieg im Jahr darauf ist nun das perfekte Symbol dafür, dass man den Song Contest noch nicht in die Tonne treten muss.
Es wäre, gelinde gesagt, kompliziert geworden, hätte Israel gewonnen. Es wäre unpassend eskapistisch gewesen, hätte Humorpop gewonnen. Gewonnen hat diesmal - Song-Contestiger geht es schon kaum - ein Land, das es geschafft hat, seine musikalische Tradition (Oper) auf moderne, junge Art zu vermitteln. Weil es auf ein Publikum traf, dass sich mit dem ganzen Drama in der Welt schon irgendwie auseinandersetzen will. Aber bitteschön dann mithilfe von echten Profis.
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