Es haben die falschen Menschen die Aufmerksamkeit gekapert: Allzu vieles dreht sich in der Politik, im Internet, in der öffentlichen Debatte um die negativen, destruktiven, hasserfüllten Leute. Was unsinnig ist und niemandem guttut.
Wie viel lohnender ist es doch, sich gemeinsam zu begeistern für die erstaunlich positive Kraft, die in manchen Menschen steckt. Und zu staunen über die fast unglaubliche Widerstandskraft gegen die schlimmsten Dinge, die einem im Leben passieren können.
Wer lieber als mit dem übellaunigen Standardpersonal mit einer bewundernswerten Person seine Zeit verbringen will – es lohnt sich! –, dem sei die Doku „Fragen Sie Dr. Ruth“ (zum Leihen oder Kaufen auf Amazon Prime Video) vehementest ans Herz zu legen. Dafür begleiteten die Filmemacher die US-Sexexpertin Ruth Westheimer rund um ihren 90. Geburtstag. Herausgekommen ist ein berührendes Porträt einer Ausnahmeerscheinung.
Vielleicht erinnert man sich noch an die Urzeiten des Kabelfernsehens: Schon in den 1980ern sah man in Österreich eine wirklich kleine Person mit einem wirklich großen Lächeln über Sex reden. Nicht so verschämt oder pädagogisch, wie das Dr. Sommer damals tat. Sondern da ging es im Nachmittagsfernsehen ordentlich zur Sache, über die Wege, zum Höhepunkt zu kommen, über anatomische Fragen und Beziehungsschwierigkeiten, über Sexpraktiken, die damals – vor der Allgegenwärtigkeit von Internetpornografie – für viele noch Science-Fiction waren.
Dr. Ruth
Geboren als Ruth Karola Siegel 1928 in Deutschland, überlebte sie die NS-Schrecken in der Schweiz. Ihre Eltern wurden ermordet. Nach dem Krieg studierte sie an der Sorbonne in Paris und der Columbia University in New York
Medienstar
Mit einer Radio-Talkshow wurde sie 1980 zur Pionierin: Sie sprach offen und hin- und mitreißend über Sex. Sie schrieb unzählige Sachbücher, hatte eine TV-Show und bezeichnete sich selbst als „1 Meter 40 konzentrierter Sex“
Dr. Ruth, die vor wenigen Wochen 96-jährig verstarb, war damals schon Kult, ein einzigartiges Energiebündel mit ansteckendem Lachen, deutschem Akzent und ohne falsche Scham. Die Doku nun beleuchtet all das, was man sich damals fragte: Wie Dr. Ruth in der erzprüden US-Medienlandschaft zum Star wurde. Wie sie das Leben so vieler Amerikaner zum Positiven veränderte, wie sie eine Gesellschaft lehrte, über Sexualität zu reden. Wie sie, mit freundlichem Lachen, scheinbar noch so große intime Probleme völlig normal fand.
Auch wie sie gegen die Diskriminierung und Stigmatisierung der AIDS-Kranken ankämpfte, als das noch kaum jemand anderer tat.
Und wie sie, mit zehn Jahren, Abschied von ihrer Familie nehmen musste, die sie nie wieder sehen sollte. Erst im Zuge der Doku erfuhr sie die Daten der Ermordung ihrer Eltern durch die Nationalsozialisten.
Der Weg von der Kriegswaisen zum amerikanischen Medienstar ist endlos faszinierend.
Unermüdlich setzte sie sich für ihre Sache ein: für Aufklärung, sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit. Eigentlich: für das Leben. Bewundernswert.
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