KURIER: Sehen Sie die drei Choreografien als abstrakte Tanzstücke?
Martin Schläpfer: Nein, das würde ich nicht sagen. Bei Hans van Manens „Concertante“ gibt es trotz aller formaler Strenge einen intensiven emotionalen Austausch zwischen den Menschen, es knistert geradezu. Ähnlich, auch wenn diese Begegnungen nobler und zarter erscheinen, ist es auch in George Balanchines „Brahms-Schoenberg Quartet“. Die Orchestrierung von Schönberg ist ein Geniestreich! Forsythe hat die Denkweise des Balletts verändert, besonders in „In the Middle, Somewhat Elevated“ sind die Tänzerinnen und Tänzer körperlich frei. Diese Freiheit liegt teils im Off Balance, in einer extremen, alle Grenzen sprengenden Körperlichkeit. Es hat die Tanzkunst revolutioniert. Auch in der tänzerischen Gleichbehandlung der Geschlechter war es seiner Zeit weit voraus. An diesem Abend gibt es viel puren Tanz zu sehen, der das ganze Kaleidoskop menschlicher Aspekte zu spiegeln vermag. Der tanzende Mensch ist eine Wesensform und hat schon an sich eine Geschichte.
„Concertante“ war bei der Uraufführung 1994 kein Erfolg. Sie waren an der Entdeckung und Neubewertung beteiligt. Welche Bedeutung hat dieses Werk heute?
Es ist eines seiner wenigen Ensemblewerke, dazwischen sind Pas de deux-Inseln. Die Choreografie hat zu Musik von Frank Martin einen großen Drive und eine Farbigkeit, die sich auch in den Kostümen Keso Dekkers zeigt. Hans van Manen zeigt in seinen Werken, dass Mensch und Musik und Raum für Choreografie genügen. Van Manens Einstehen für die Tanzkunst in der reduziertesten Art hat mich geprägt. Ich freue mich sehr, dass er zur Premiere nach Wien kam!
Welchen Stellenwert hat das Ballett heute?
Von den späten 1970er- bis zu den 1990er-Jahren gab es einen Tanzboom, auch im klassischen Ballett, der Tanz erreichte neue Bevölkerungsgruppen. Budgets von Tanzproduktionen entsprachen teilweise denen der Oper. Das ist heute nicht mehr so, obwohl die Auslastungszahlen von Tanzvorstellungen ein anhaltend hohes Publikumsinteresse zeigen. Es gibt daher keinen vernünftigen Grund, die Ballett- und Tanzcompagnien kleinzusparen. Auch die Finanzierung der freien Szene ist seit einigen Jahren sehr unstet geworden, sodass die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr wissen, womit sie rechnen und planen können. Das wirft natürlich die Frage auf, wie tief Tanzkunst im Bewusstsein von Politik und Gesellschaft verankert ist.
Warum haben Sie sich entschlossen, Ihren Vertrag als Staatsballett-Direktor nicht über die Saison 2024/’25 hinaus zu verlängern?
Der administrative Aufwand in gleichbleibenden Strukturen wächst. Hier bin ich nicht nur Direktor für eine Compagnie an zwei unterschiedlichen Häusern, ich stehe in der künstlerischen Ausrichtung auch der Ballettakademie vor. Das bedeutet ein sehr hohes Pensum, von dem ich nun einmal Abstand gewinnen will, um wieder Zeit für mich als kreierender Mensch zu gewinnen. Wenn man sich umschaut in der Tanzwelt, dann fällt auf, dass große Compagnien heute meist von Managing Directors geleitet werden. Der Preis dafür ist, dass die Ensembles ihr Profil verlieren, wenn überall die gleichen Choreografen gastieren und nicht mehr eine Künstlerpersönlichkeit den Spielplan prägt. Ich fürchte, dass sich die Repertoires in Zukunft international sehr angleichen. Die Einfärbung durch spezifische Handschriften wird wegfallen. Ich habe für mich entschieden, meine Arbeit als Direktor in Wien zu beenden. Natürlich werde ich alles tun, um einen guten Übergang zu meiner Nachfolgerin zu schaffen. Ich habe ein sehr gutes Einvernehmen mit Alessandra Ferri.
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