Martin Kubaczek: Den alten Vater festhalten

Martin Kubaczek: Den alten Vater festhalten
Bevor er sich verflüchtigt: Ein Sohn hört seinem alten Vater zu. Jetzt kann er sterben. Denn jetzt bleibt er.

Verwittert und verdorrt, im Übergang zu Moos und Flechten, fast kein Körper mehr, nur ein dickes Flanellhemd, und Hosenträger, die über die Schultern rutschen, und die Hose, die über die Hüften rutscht: Vater.

Bald wird er tot sein. Noch redet er. Er will wieder auf den Berg wandern. Er schafft es nur mit Mühe in der Wiener Wohnung zur Toilette.

"Die Knie meiner Mutter und mein Vater im Krieg" ist womöglich zunächst ein Ärgernis.
Weil man selbst die Gelegenheit verpasst hat, sich von den Eltern ihr Leben vor und im und nach dem Krieg weitergeben zu lassen. Weil man zu wenig wissen wollte von ihnen - und plötzlich ist diese Bibliothek, die sie einst waren, verschwunden.

Und dann, nach dem Ärger, das Staunen. So stark, so intensiv und eigen sind die vom Verlag als "Roman" getarnten drei Erzählungen, dass man sich fragt: Wieso ist der Autor nicht berühmt?

Das verwunderte schon 2009, als Martin Kubaczek den historischen, den zerissenen Top-Agenten Richard Sorge in eine rhythmische Komposition mit Kirschblüten, Gingkobäumen und Reisfeldern brachte.

Der Deutsche spionierte für Stalin. In Tokio fand er heraus, dass Hitler Russland angreifen will. Man nahm ihn nicht ernst ("Sorge. Ein Traum", Folio Verlag).

Kubaczek, Jahrgang 1954, ist Germanist (und Violinist). Er lebte und unterrichtete 15 Jahre in Japan, ehe er nach Wien zurückkehrte.

Letzter Kuss

Sein neues Buch hat drei Teile. Zusammen sind das nicht einmal 160 Seiten, die nichts ungesagt lassen bis zum vermutlich letzten Kuss, den Vater seinem Sohn gegeben hat.

Teil 1: Vater ist fast 90. Er plaudert über den Krieg. Er hat Ironie. "Ich bin in meiner Jugend weit herumgekommen. Kreuz und quer, durch ganz Europa, sechs jahre lang. Dank eines gewissen Herrn."

Teil 2: Jetzt reden Vater, Mutter und Sohn. Etwa vom ersten Ehebett vor 60 Jahren, man musste einen Kredit aufnehmen. Mutter hatte schöne Knie. Sie hätte gern gehabt, dass ihr Mann sie malt. Vater zeichnete und malte schon während des Krieges. Das hat ihm sogar das Leben gerettet. Aber seine Frau wollte er erst malen, als er sich gut genug fühlte. Und da wollte sie nicht nicht mehr, da waren ihre Knie nicht mehr so schön.

Teil 3: Vaters Aquarelle werden mit jenen William Turners verglichen. Beide haben den Rigi gemalt. Turner interessierte das Unsichtbare, den Vater die Erinnerung ans Wirkliche.
Liebe bleibt Er verflüchtigt sich zusehends. Dass er sich anmacht, wird nicht ausgeklammert wie in Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil". Trotzdem ist die Würde gewahrt. Es ist ein überaus zärtliches Buch.

Vater, Mutter, Sohn sind Liebe. Die Liebe bleibt, wenn Vater geht. Die Bilder bleiben. Einmal, wenn Mutter und Sohn von ihm in früheren Tagen reden, ruft er: "Das bin nicht ich!" Aber so war es. So war er. Vater ist für immer gerettet.

KURIER-Wertung: ***** von *****

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