Mark Twains geheime Autobiografie
Er spricht aus dem Grab (und gönnt man sich um 21,99 Euro die Hörbuch-Version, glaubt man das sofort: Harry Rowohlt liest, irgendwie schafft seine Stimme sogar das Klappern der Gebeine).
Mark Twain (1835–1919) wollte tot sein. 100 Jahre tot, ehe aus drei Laufmetern Zettelwirtschaft "Meine geheime Autobiografie" entstehen durfte.
Der Autor von "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn" war ein Weltstar; was schon daran zu sehen ist, dass ihn ein Brief aus Australien erreichte, nur adressiert an Mark Twain
Gott weiß wo.
Deshalb wollte er beim Diktieren frei seine Ansichten bekannt geben, ohne ins gesellschaftliche Aus zu geraten. Auch dachte er an die armen Angehörigen der von ihm Porträtierten und Beleidigten.
Selbstsucht
Das ist der eine, der schimpfende Teil der Autobiografie – die sich lesefreundlich mischt (zum Beispiel) mit der Geschichte, als Twain bei US-Präsident Cleveland mit seinem Hintern irrtümlich sämtliche Klingelknöpfe drückte und 16 Sekretäre herbeieilten: Twain gegen Finanzhaie, gegen Adelige, Politiker – gegen die Menschheit.
Zitat 1: "All das Gerede über Toleranz, wo und wann auch immer, ist schlichtweg eine sanfte Lüge. Es gibt sie nicht. Sie wohnt im Herzen keines Menschen ... Haupttriebfeder der Menschennatur ist genau dies – Selbstsucht."
Zitat 2: "Schauen Sie sich die Tyrannei der Partei an – die sich Parteibindung, Parteiloyalität nennt –, eine von hinterhältigen Männern zu selbstsüchtigen Zwecken erfundene Schlinge, die Wähler zu Sachen, Sklaven, Kaninchen macht."
Ein aktuelles Buch also.
Der Schriftsteller agiert als Zeitzeuge, Sozialkritiker, aber auch als Humorist, Satiriker, lockere Plaudertasche. Nicht chronologisch erzählt er, sondern nach Lust und Laune. Etwa von Kindertagen in Missouri, als ein Hendl nur zehn Cent kostete und Mutter eine Rolle Zwirn gratis dazubekam, wenn sie Baumwollstoff kaufte.
Und dann gleich von seiner Tochter Susi, die an Gehirnhautentzündung starb, 24-jährig, während er auf Reisen war. Mark Twain zitiert aus ihren Notizen, um sich nicht selbst loben zu müssen: Susi hatte sein "schönes Profil" erwähnt und aufgeschrieben, er sei "ein sehr guter Mensch".
Ein freundlicher gewiss. Ein großer Händeschüttler. Ein lustiger Kerl, der im Wiener Hotel mit dem Fahrrad vom Zimmer ins Bad fuhr.
Und trotzdem einer, dem die ganze Welt am A... ber so tief formulierte er nicht.
"Die geheime Autobiografie" (übersetzt von Andreas Mahler und Hans-Christian Oeser, Aufbau Verlag, 624 Seiten, 51,30 Euro) ist der erste von drei geplanten Teilen. Jetzt sind wieder die Amerikaner an der Reihe, Tausende Manuskriptseiten durchzuarbeiten.
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