Marcel Reich-Ranicki: Er las immer im Sakko
Im Warschauer Getto war er zwischen 1940 und 1943 jeden Tag mit dem Tod konfrontiert. Marcel Reich-Ranicki lernte damals: „Der Tod ist etwas sehr Reales.“
Aber als er älter wurde und das Leben Ähnlichkeiten mit einem Massaker bekam, wollte er mit dem Ende nicht konfrontiert werden. Er gab zu, Angst zu haben.
Und witzelte: Am meisten ärgere ihn, dann nicht mehr die Zeitungen lesen zu können. Am meisten störe ihn, nicht mehr zu erfahren, wie alles weitergehe ...
Mittwoch ist Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren in Frankfurt gestorben. Im März hatte er seinen Prostatakrebs öffentlich gemacht.
Zuletzt lag er im Spital und bekam noch zwei Stunden vor seinem Tod Besuch vom FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. Reich-Ranicki war 15 Jahre Literaturchef der Zeitung gewesen – mit eigenem Dienst-Mercedes F – AZ 734.
Herr der Bücher
Die einen hassten ihn und seinen fuchtelnden Zeigefinger. Die anderen schätzten ihn als „Herr der Bücher“. Rechthaberisch war er schon. Beleidigend.
Als er auf der Frankfurter Buchmesse den von ihm nicht so geschätzten Schriftsteller Martin Walser begegnete, sagte Walser: Falls irgendwann wieder Konzentrationslager gebaut würden, „dann sitzen wir beide drin“. Darauf der Kritiker: „Aber Sie als der Wärter.“ Walser revanchierte sich 2002 mit dem schrecklichen Roman „Tod eines Kritikers“: Ein jüdischer Literaturkritiker kommt zu Tode. Man erkannte ihn sofort.
Marcel Reich-Ranickis Leben im Rückblick
Die Literatur war sein Leben. Er brachte sie uns näher. Wobei Reich-Ranicki die wichtigsten „Dinge“ seines Leben gern variierte: 1. die Liebe, 2. die Literatur, 3. die Musik – „in unterschiedlicher Reihenfolge“.
Der Mann, der zum bekanntesten, einflussreichsten Kritiker im deutschsprachigen Raum werden sollte – die Titel „Literaturpapst“ und „Popstar“ störten ihn gar nicht – wurde am 2. Juni 1920 im polnischen Wloclawek geboren und musste unter deutscher Besatzung im Warschauer Getto leben.
Dort heiratete er 1942 seine Frau Teofila, mit der er bis zu ihrem Tod 2011 verbunden blieb. Aus dem Getto flüchteten die beiden, ihre Eltern wurden umgebracht. In verschiedenen Verstecken überstanden sie den Krieg. Ab 1958 lebte das Ehepaar in Deutschland. Reich-Ranickis Selbstgespräche in den Redaktionskonferenzen der FAZ sind legendär. Seinen Vorlieben entkam man nicht: Kafka, Thomas Bernhard, Thomas Mann, Brecht.
Eklat im TV
Berühmt wurde er durch die Sendung „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001). Da war’s schon einmal so, dass Günter Grass „wertloses Zeug“ fabrizierte. In Deutschland ergab eine Umfrage: 98 Prozent kennen den Namen Reich-Ranicki.
Den brauchte er dem Taxler am Telefon längst nicht zu nennen, wenn er abgeholt werden wollte: Sein schnarrendes „Jaaaaa“ verriet ihn sofort.
Die ZDF-Büchershow endete mit einem Eklat, als er seiner Kritikerkollegin Sigrid Löffler Blindheit und Taubheit „gegenüber erotischen Qualitäten“ bescheinigte.
Auch als Chefjuror beim Bachmann-Preis in Klagenfurt erregte er Aufsehen. Und dann, als er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2008 auf der Bühne die Auszeichnung ablehnte: zu schlechtes Niveau ...
Im Bett las er nie. Er las im Sitzen, und zwar immer mit Sakko und Krawatte. Das sei er der Literatur schuldig.
„Der Schluss, das geht nicht!“ Marcel Reich-Ranicki gefiel nicht, was das ZDF einst unter dem Titel „Ich, Reich-Ranicki“ in einer Doku zeigte. „Das ist mir alles so fremd.“ Immerhin hatte er sein Leben selber erzählt. „Mein Leben“ heißt die Biografie.
Viele werden sie jetzt wieder zur Hand nehmen. Oder erstmals.
Oder auch (über Günter Grass, später Nobelpreisträger): „Seine letzten Bücher sind so misslungen, dass er jetzt kaum noch Chancen auf den Nobelpreis hat.“
Den Menschen hinter dem scharfzüngigen Urteil über Bücher, Autoren, Fernsehen, eigentlich: alles, lernte man aber erst in „Mein Leben“ kennen. Es lohnt sich nachzulesen.
Über Reich-Ranickis Zeit im Warschauer Getto. Über die „Gruppe 47“, über seine Zeit als strenger Kritiker, der mit sichtlicher Lust aneckte.
„Reich-Ranicki ist ein begnadeter bis peinigender Polterer, der eine ungeheure verbale Gewalt ausüben kann“, sagte sein langjähriger Mitstreiter Hellmuth Karasek über Reich-Ranicki. „Mein Leben“ aber zeigt Reich-Ranicki abseits des Polterns.
Der Entertainer Thomas Gottschalk (63) hat Marcel Reich-Ranicki als Persönlichkeit hervorgehoben, die mit ihrer "Literaturkritik eine Landschaft, die für viele Menschen grau ist, bunt gemacht" hat, wie Gottschalk der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. "Er hat für Deutschland mehr getan als die meisten Kulturpolitiker. Mit seinen Memoiren hat er uns nichts vergessen, aber vieles vergeben." Gottschalk hatte Reich-Ranicki zu einer TV-Talkshow im Oktober 2008 eingeladen, nachdem dieser den Deutschen Fernsehpreis zurückgegeben hatte. Auch diente Reich-Ranicki Gottschalk als Telefonjoker bei der Prominentenausgabe von Günther Jauchs RTL-Show "Wer wird Millionär?".
"Herr der Bücher"
Das ZDF würdigte Reich-Ranicki als unverwechselbaren und authentischen "Herrn der Bücher". "Marcel Reich-Ranicki konnte polarisieren wie wenige andere. Seinem Motto 'Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker' ist er immer treu geblieben", teilte ZDF-Intendant Thomas Bellut am Mittwoch in Mainz mit. Das Zweite trauere um Reich-Ranicki, der unter anderem durch die ZDF-Büchersendung "Das Literarische Quartett" bekannt war, die von 1988 bis 2001 lief. "Mit seiner deutschen, polnischen und jüdischen Biografie war er auf eine ganz außerordentliche Weise mit der Geschichte und Kultur unseres Landes verbunden", betonte Bellut.
"Scharfsinniger Kritiker"
SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel würdigte Reich-Ranicki als "scharfsichtigen Kritiker". Er sei "ein brillanter Literaturvermittler und eine faszinierende wie vielschichtige Persönlichkeit" gewesen, erklärte Gabriel am Mittwoch in Berlin. "Deutschland verliert einen bedeutenden Publizisten und großen Menschen. Er wird uns allen fehlen", betonte Gabriel. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier erklärte, Reich-Ranicki sei eine Institution gewesen. "Sein Tod ist ein schwerer und schmerzlicher Verlust für das kulturelle Leben in Deutschland." Er habe als Kritiker, als Publizist und Schriftsteller die literarische Kultur des Landes über mehrere Jahrzehnte geprägt wie kein zweiter. "Seine Biografie war aufs engste verknüpft mit den Irrwegen und Höhen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert." Er sei zugleich eine moralische Instanz gewesen, "die tiefen Respekt und höchste Anerkennung bei allen Menschen in Deutschland genossen hat."
"Ausnahmeerscheinung"
Als "Ausnahmeerscheinung" und "große, prägende Persönlichkeit der Literaturkritik" würdigte die Kultursprecherin der österreichischen Volkspartei, Silvia Grünberger, heute, Mittwoch, den "Literaturpapst". "Marcel Reich-Ranicki war kein Bequemer. Er hat gesagt, was er dachte. Sein Urteil war klar, kompetent und unmissverständlich, gerade dadurch hat er Maßstäbe gesetzt und Spuren hinterlassen", so Grünberger. "Mit ihm verliert die europäische Kulturszene einen ganz Großen."
Deutschland trauert
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat den gestorbenen Kritiker Marcel Reich-Ranicki als "leidenschaftlichsten Streiter und entschiedensten Anwalt" der deutschen Literatur gewürdigt. "Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen", erklärte Gauck am Mittwoch." Alle haben ihn geachtet, viele haben ihn geliebt, wir alle werden ihn vermissen." Gauck betonte, Reich-Ranickis Leben spiegle eindrücklich deutsche und europäische Geschichte, und erinnerte daran, dass dieser "an der Seite seiner unvergessenen Frau Teofila" das Warschauer Ghetto überlebt habe. "Unser Land trauert um Marcel Reich-Ranicki."
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