Marías: Gar nicht schön, verliebt zu sein

Marías: Gar nicht schön, verliebt zu sein
Diesmal verwirrt der Spanier nicht. Er analysiert bloß, dass Verliebtsein nicht unbedingt etwas Positives sein muss.

Als der Spanier seine Trilogie "Dein Gesicht morgen" nach acht Jahren abschloss, erklärte er, nun sei alles gesagt; und der von ihm beklagten zunehmenden Infantilität habe er auch etwas entgegengesetzt.

(Mit dem Ergebnis, dass sich die drei Bücher im deutschen Sprachraum immer schlechter verkauften.)

Er glaube nicht, so Javier Marías 2007, dass er jemals wieder einen Roman schreiben könne.

... und ab Donnerstag sind sie da, "Die sterblich Verliebten" . Selbstverständlich hat sich der 60-Jährige neuerlich viel Platz für seine Gedankengänge genommen, und es braucht auch jetzt keine große Handlung.

Aber man sieht diesmal so klar wie einst im bekömmlichen Erfolgsroman "Mein Herz so weiß". Es besteht nicht die Gefahr der Irritation durch einen Mann in der Behindertentoilette, der einem anderen Benützer mit dem Schwert das Haarnetz aufschlitzt (wie in Teil zwei der Trilogie).

Grimmig

Marías: Gar nicht schön, verliebt zu sein

Zum Verliebtsein hat uns Marías also noch etwas zu sagen. Nichts Erlösendes. Nichts Selbstloses.

Sondern Grimmiges.

"Die sterblich Verliebten" sind ein Thriller – auf den wenigen Seiten, die ein Thriller sein wollen.

Wir sind in Madrid. Die Erzählerin (María) beobachtet Tag für Tag ein Ehepaar beim Frühstücken im Café. Sie etwa 40, er um die 50. Einmal sagt er "Prinzessin" zu ihr. Ah. María freut sich ehrlich, ist nahezu erleichtert: dass es so etwas noch gibt im wirklichen Leben! Sie arbeitet nämlich in einem Verlag, hat viel mit schlechten Romanen zu tun (und eitlen Schriftstellern).

Jedenfalls kommt dieses perfekte Paar plötzlich nicht mehr, weil "er" auf der Straße erstochen wurde. Von einem schimpfenden Obdachlosen. Einfach so.

Einfach so?

Machen wir es ganz kurz (weil ja das geistige Flanieren des Autors ohnehin wichtiger ist): Der Tote hatte einen sehr engen Freund, und der ist in die Witwe ziemlich verliebt – wie María, die mit diesem lässigen Typ ein bissl Sex hat, bald erfahren muss.

In den Ausschweifungen nimmt "Oberst Chabert" von Balzac großen Raum ein.

Der war ja aus einem Krieg nicht gleich zurückgekehrt, weshalb er für tot erklärt wurde. Dann kam er doch heim, seine Frau aber hatte einen anderen geheiratet.

Zuerst die Verzweiflung, dass der Geliebte nicht mehr lebt. Dann die – noch größere ? – Verzweiflung, dass er schon wieder da ist. Tolles Thema. Bei Balzac.

Javier Marías neuer Roman ist keiner, in den man sich unsterblich verlieben muss. Aber man kann sich in ihn einhängen und, mit hängendem Kopf, ein bisschen spazieren gehen.

KURIER-Wertung: **** von *****

Peter Nádas – "Parallelgeschichten"

Marías: Gar nicht schön, verliebt zu sein

Etwa in der Mitte des Romans wird ein Gemälde beschrieben. Es zeigt nicht weniger als Himmel und Erde. Man wird müde, wenn man es längere Zeit anschaut, und es gibt kein Ende, das Bild führt zu keinem Ende.

Genauso ist es mit den ganzen "Parallelgeschichten" , an denen der Ungar Nádas 18 Jahre geschrieben hat.

Mit geschwollenen Augen weiß man nach 1700 Seiten, dass man sich vor dem Werk verneigen muss.

Obwohl, oft hat man sich gewundert, oft nicht ausgekannt, die Namen durcheinandergebracht, und noch öfter war man ein bisschen verärgert.

Denn das kann sich Peter Nádas doch wohl nicht erlauben: Gleich am Anfang erzählt er von einer Männerleiche 1989 in Berlin, vom Geruch des Toten, von der kleinen pflaumenblauen Unterhose. vom Spermafleck – und vom seltsamen Jogger, der ihn fand; der wie eine Zugabe zu dem hoffnungslosen Mann im Schnee wirkt.

Und dann ... kümmert er sich um die nächste Handlung. Geht nach Budapest, 1961. Springt zurück in der Familiengeschichte und in der Geschichte.

1300 Seiten später tauchen Jogger und Polizist für eine theoretische Diskussion über Schuld noch einmal auf, ehe sie endgültig verpuffen.

So geht das immer wieder. Der Leser steht sozusagen im Regen, verzweifelt genießend. Wer steht mit wem in Beziehung? Immerhin zieht sich ein Satz durch: "Der Körper vergisst nicht."

Man tut dem Buch nichts Gutes, wenn man es – wie in Ungarn geschehen – mit "Krieg und Frieden" vergleicht. Da würden nur die falschen Leser erreicht werden.

Erstens haben weder Tolstois Fürst Bolkónski noch Graf Besúchov ständig ihren Penis in der Hand gehalten. (In den "Parallelgeschichten" ist viel Sex.)

Zweitens hatte man bei den russischen Adeligen schon das Gefühl, dass sie zum Greifen nah sind.

Drittens wäre Tolstoi bestimmt nicht auf die Idee gekommen, dass die Zimmerwand einen Widerhall erzeugt, wenn jemand durch die Zähne zischt.

Nicht einmal bei einem Rülpser ertönt daheim ein Echo, Gott sei Dank.

(Stimmt schon, das war jetzt kleinlich.)

Alles ist zerfranst. Soll zerfransen. Das Werk darf rätselhaft bleiben. Es wirkt nach, auch wenn man gar nicht weiß, warum es im Kopf Wurzeln schlägt. Starke, kalte Literatur.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Zeruya Shalev – "Für den Rest des Lebens"

Marías: Gar nicht schön, verliebt zu sein

Gesund ist das nicht, was sich über Generationen hinweg ereignet hat.

Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev ("Mann und Frau", "Späte Familie") hat in einem ZDF -Interview ja selbst gesagt: Eine jüdische Familie sei wie eine Krankheit.

Weil man aneinanderpickt – nicht unbedingt aus Liebe, sondern wegen der Katastrophen – Terroranschlag, Holocaust –, die jede Familie erlebt hat.

Im Mittelpunkt von "Für den Rest des Lebens" stirbt Chemda Horovitz. Ihre Zunge gleitet übers leere Zahnfleisch und sucht nicht nur die verlorenen Zähne, sondern die verlorenen Jahre. Ihren Ehemann mochte sie nicht. Ihre Mutter mochte sie nicht. Ihre Tochter mochte sie auch nicht. Was bleibt übrig vom Leben?

Ihr Sohn Avner. An den krallt sie sich auch jetzt noch: "Geh nicht fort!" bzw. "Wann kommst du wieder?"

Anwalt ist er, Menschenrechtsanwalt mit mäßigem Erfolg. Fett ist er geworden. Der "Moloch Ehe" macht ihn unglücklich. Er fühlt sich gefangen und stellt einer Frau mit roter Satinbluse nach, von der er bisher bloß einen einzigen Blick erhascht hat.

Und Chemdas Tochter Dina bleibt übrig. Noch so ein "ausgetrocknetes Herz". Dina wurde von Mutter vernachlässigt. Ihre ganze Liebe hat sie in die eigene Tochter gesteckt, aber die wird flügge. Gern würde Dina deshalb ein Kind adoptieren. Ihr Ehemann meint, was sie brauche, sei eher ein anderer Mann ...

Auf Aver und Dina trifft zu, dass es in ihrem Alter keine leichten Entscheidungen mehr gibt – "der Preis wird immer höher".

Lang und klar Dass niemand ohne Liebe sterben will, ist keine neue Erkenntnis. Mit ihren überlangen, aber immer klaren Sätzen lässt Zeruya Shalev die alte G’schichte aus allen Richtungen herbeifließen. Ein Strom wächst heran, der derart viel mit sich führt, dass man als Leser auf Trab gehalten wird:

Kann man überhaupt sterben, wenn man gar nicht gelebt hat? Warum kann man nicht zum Arzt gehen und eine Blutprobe abgeben, um zu erfahren, wie viel Liebe noch da ist?

Als Symbol für die vielen Fehler, die begangen wurden, werden auch Israel und die Chulaebene am Fuß der Golanhöhe vorgezeigt. Dort wurde in den 1950er-Jahren für Obst und Baumwolle ein See trockengelegt.

Aber es gibt noch Sümpfe; und mittlerweile ein Naturreservat. Der Fehler wurde halbwegs wiedergutgemacht, und auch in Chemdas Familie ist noch Zeit für Korrekturen.

KURIER-Wertung: **** von *****

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