Das "Schwarze Quadrat": Absoluter Nullpunkt der Kunst
"Alles, was wir geliebt haben, ist verloren gegangen: Wir sind in einer Wüste." Das ist jetzt vielleicht nicht immer die Reaktion, die man sich als Künstler von führenden Kunstkritikern auf ein neues Werk erhofft. In einem speziellen Fall aber schon.
Vor 100 Jahren, am 19. Dezember 1915, präsentierte der russische Künstler Kasimir Malewitsch (1878–1935) erstmals das "Schwarze Quadrat". Der prompt folgende Aufschrei der Kunstkritiker war auf seine Art durchaus berechtigt: Angesichts dieses Werkes kann einem bis heute, bis in unsere an fast alles gewöhnte Welt hinein, so richtig schwindlig werden.
Es markiert einen radikalen Endpunkt all dessen, was der Mensch in der Kunst gerne über sich und die Welt erfahren wollte. Und es beendet all dies, indem es die bisherige Malerei als Lüge vorführt. Und nicht nur die.
Gegenstände? Lüge. Farbe, Form? Lüge. Die Welt? Eine Lüge.
"Suprematismus" nannte Malewitsch seine Kunstrichtung. Der Name steht für die Vorherrschaft der Gefühle vor dem Gegenstand. Es ging um die Befreiung der Kunst von der "Schwere der Gegenstände", um eine stark vom Philosophen Arthur Schopenhauer geprägte Abkehr von der Welt, die die Kunst zuvor möglichst getreu darstellen wollte.
Ikone
Das stellt so ziemlich alle Fragen, die man sich als Mensch so stellt, auf neue Weise. Nicht schlecht für – nun ja – eben ein schwarzes Quadrat, das nicht einmal so richtig quadratisch ist. Und auch der weiße Hintergrund ist längst nicht mehr weiß.
Der Einfluss war gewaltig. Das "Schwarze Quadrat" wurde zu einer Ikone der Kunstgeschichte und zu einem der berühmtesten Bilder der Welt. Es gibt für das sich spreizende Werk sogar einen vermarktbaren Slogan: Es sei die "Mona Lisa der nicht-gegenständlichen Kunst". Nun, zum 100. Geburtstag, gibt es einige Würdigungen – und überraschende Erkenntnisse.
Darunter: Ein rassistischer Witz.
Bei geburtstäglich motivierten Forschungen an einem der beiden Exemplare – Malewitsch hat seine Bilder oft mehrfach ausgeführt – fanden russische Forscher unter dem "Schwarzen Quadrat" ein weiteres Bild (das zweite, eines war schon bekannt).
Und eine Aufschrift, die einerseits belegt, wie sehr Malewitsch selbst mit Interpretation und der Tragweite seines Werkes gehadert hat. Und andererseits den fast heiligen Ernst des Bildes – das in der ersten Ausstellung dort hing, wo sonst traditionell die Heiligenbilder angebracht sind – durchbricht. "Schlacht von Schwarzen in einer dunklen Höhle", steht dort sinngemäß. Das schwarze Quadrat als "Neger"-Witz. Galeriesprecherin Jekaterina Woronina zufolge ist das eine Referenz an das Bild "Combat de negres dans une cave, pendant la nuit" des französischen Künstlers Alphonse Allais (1854–1905).
Nachbau-Schau
Gefeiert wird nun mit einer Wodka-Bar und russischer Romanze-Musik: Das alles gibt es am Jahrestag, dem morgigen Samstag, in der Fondation Beyeler (Schweiz).
Die "0" steht übrigens für den radikalen Neustart, den das "Schwarze Quadrat" ausrief. Vor 100 Jahren fing die Welt von Null an. Ein Grund zu feiern.
Der Künstler
Kasimir Malewitsch (1878–1935) gilt als eine der Zentralfiguren der modernen Kunst. Er übte einen nachhaltigen Einfluss auf die russische Avantgarde und die Entwicklung der Moderne aus. Mit dem „Schwarzen Quadrat“ setzte er den radikalsten Schnitt zur gegenständlichen Malerei. Später schuf er Werke, die aus der Bewegung eines schwarzen Quadrates entstehen würden: Quadrat, Kreuz und Kreis waren die Grundelemente des „Suprematismus“. Unter Stalin sah sich Malewitsch jedoch ins Abseits gedrängt und begann wieder, gegenständlicher zu malen. Über seinem Totenbett prangte das „Schwarze Quadrat“.
Malewitsch in Wien
Ab 26. Februar (bis 26. Juni) zeigt die Albertina die Schau „Chagall bis Malewitsch“ über die russische Avantgarde aus der Anfangsphase der Revolution. Mit 140 Werken von Künstlern wie Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky oder Marc Chagall will man sich vollkommen auf die abstrakte Malerei konzentrieren.
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